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Klimakrise
Gesundheit

Ein Katastrophenforscher spricht: “Gesellschaft wird sich grundlegend ändern”

Martin Voß ist Soziologe und forscht an der Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität Berlin. Warum wir gerne die Augen vor möglichen Gefahren verschließen, die Pandemie vorhersagbar war und wie die Gesellschaft nach Corona aussehen könnte, erzählt er uns im MOMENT-Interview.

MOMENT: Sie sind Katastrophenforscher. Was verstehen Sie denn überhaupt unter einer Katastrophe?

Martin Voß: Wir Soziologen haben da nicht so eine klare Definition, wir starten unsere Untersuchungen im Grunde mit dem, was andere politische oder gesellschaftliche Akteure als Katastrophe definieren. Der zweite Zugang ist der, dass wir uns Prozesse ansehen, die gesellschaftliche Ordnungen kippen oder kollabieren lassen.

MOMENT: Und die Corona-Krise ist eine solche?

Voß: Ja. Und deshalb habe ich hier ein Problem mit dem Wort Krise. So nennt man ein Bedrohungsszenario, bei dem noch nicht absehbar ist, ob alles schlimm wird oder es gerade nochmal gut geht. Doch diesen Punkt haben wir schon längst überschritten. Ich würde von einer Katastrophe sprechen, weil unsere Normalitätsvorstellungen grundlegend erschüttert werden. Viele Menschen leiden gerade sehr wegen der Pandemie oder durch diese verschärft . Das Wort Krise verstellt den Blick auf die Realität und die vielen Kollateralschäden und Toten, die nicht direkt an COVID19 sterben werden, aber als Auswirkung davon.

MOMENT: Können Sie diese Kollateralschäden benennen oder abschätzen, wie schlimm sie werden?

Voß: Sie können vielfältig und komplex sein. Ich nehme nur einmal das Beispiel Alkoholismus. Wenn jemand in den letzten Wochen verstärkt zur Flasche gegriffen hat, weil ihm oder ihr zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen ist, so hat das nicht nur direkte Folgen für die eigene Gesundheit, auch das Risiko zur Gewaltbereitschaft steigt, der Arbeitsplatz könnte verloren gehen und natürlich hat diese Suchterkrankung auch Effekte auf die psychische Gesundheit, die Entwicklung und Karrierewege eventueller Kinder und so weiter und so weiter. 

Oder denken wir mal kurz an die Menschen, die ihre Krebsvorsorgeuntersuchungen aufgeschoben haben, um das Gesundheitssystem nicht zu belasten – und deren Tumore nun leider zu später erkannt werden. Aber wir müssen vor allem global denken, etwa an die unabsehbar vielen schon vorher unterhalb des Existenzminimums lebenden Menschen weltweit, die nun völlig frei fallen.

Es wird so getan, als wäre diese Pandemie völlig schicksalhaft über uns hereingebrochen. Ist sie nicht.

MOMENT: Die Folgeschäden sind also nicht ansatzweise abschätzbar?

Voß: Es ist einer meiner zentralen Kritikpunkte, dass die Forschung gar nicht vorbereitet und aufgestellt ist, um diese Wechselwirkungen und Folgeschäden abschätzen zu können. Es ist wie ein Herumstochern im Nebel. Ich komme mir teilweise vor wie im Mittelalter, wo Erdbeben auf übersinnliche Mächte zurückgeführt wurden und nicht auf tektonische Plattenverschiebungen. Es wird so getan, als wäre diese Pandemie völlig schicksalhaft über uns hereingebrochen. Ist sie nicht.

MOMENT: Hat die Politik also national und international versagt?

Voß: Politiker wechseln das Amt alle paar Jahre und vertreten das Volk. Man ihnen einfach den schwarzen Peter zuschieben, aber alle müssen sich selbst an der Nase nehmen. Wir haben die Augen vor den weniger leicht greifbaren Gefahren und Risiken verschlossen.

Die Gewohnheit der letzten 150 Jahre war: Wir handeln einfach drauflos im naiven Glauben, es wird sich auch schon irgendeine Lösung finden für alle Folgen unseres Handelns. Das ist genau das problematische Denken beim Klimawandel. Wir haben die Natur mit unserem Verhalten an den Rand des Zusammenbruchs und darüber hinaus gebracht, ändern unsere Handlungsweisen aber nicht gravierend. Wir hoffen, dass von irgendwo her schon noch eine Lösung kommt.

Ich beschäftige mich schon seit zwanzig Jahren mit dem Klimawandel. Und in den letzten zwei Jahren ist hier dank Greta Thunberg tatsächlich mehr weitergegangen, als in den Jahrzehnten davor.

MOMENT: Ist dieses abwartende Verhalten so tief in den Mensch eingeschrieben, dass er das nicht ändern kann? Bei der Klimakrise gibt es ja mit den “Fridays for Future”  doch eine rege Bewegung …

Voß: Ich bin davon überzeugt, dass weitreichende kulturelle Wandlungsprozesse möglich sind. Den Menschen zeichnet als Kulturwesen gerade aus, dass er in der Lage ist, sich informativ mit der Welt und ihren möglichen Gefahren auseinanderzusetzen. Ich beschäftige mich schon seit zwanzig Jahren mit dem Klimawandel. Und in den letzten zwei Jahren ist hier dank Greta Thunberg tatsächlich mehr weitergegangen, als in den Jahrzehnten davor.

Und ich hoffe, dass wir nach den Erfahrungen mit dieser Pandemie umdenken und gewisse Risiken gar nicht erst eingehen.

MOMENT: Welche Gefahren sind das?

Voß: Ein meines Erachtens gerade jetzt sehr mögliches Szenario ist etwa ein Kollaps der Finanzmärkte. Hier bestehen so viele systemische Abhängigkeiten. Auch die Digitalisierung generiert sehr viele wunde Punkte. Die Anfälligkeit dieser weltweit aufs Engste vernetzten Systeme ist einfach groß. Ich schätze auch die Wahrscheinlichkeit einer weitreichenden Cyber-Attacke als hoch ein. Seit Jahren wird hier bereits ein Schattenkrieg geführt, von dem die Öffentlichkeit wenig mitbekommt. Weiters halte ich die künstliche Intelligenz für ein großes Risiko. Und ich spreche hier nicht von einem Matrix-Szenario, sondern etwa davon, dass ohne menschliche Kontrolle ein einfacher Programmierfehler, ein Bug, über Jahre hinweg etwa vollkommen falsche Daten produzieren kann, auf deren Basis dann Entscheidungen gefällt werden, die in einer Katastrophe münden.

MOMENT: Sie beschäftigen sich ja beruflich ausschließlich mit solchen Szenarien, die an Katastrophenfilme erinnern – können Sie denn noch gut schlafen?

Voß: Danke, ich kann noch gut schlafen. Ich bin zwar Berufs-Pessimist, aber ich liefere keine unrealistischen Vorhersagen ab. Es war allen, die sich mit Katastrophenrisiken beschäftigen klar, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass passieren wird, was wir gerade erleben. Das war keine Frage des ob, sondern nur des wann. Es gibt viele sehr unwahrscheinlichere Szenarien, aber auch davon gibt es in Summe so viele, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eines davon tatsächlich eintritt, nicht ignoriert werden darf.

Ich hoffe, dass wir die Gefahren und Verletzlichkeiten, die uns umgeben, zukünftig anderes bewerten und deshalb vorsichtiger mit uns und unserer Umwelt umgehen. Und dass wir als kritisches Kollektiv mit dem Finger auf diejenigen zeigen, die nicht adäquat handeln.

MOMENT: Letzte Frage. Krise, oder wie Sie es besser finden: Katastrophe als Chance?

Voß: Der Kollege Armin Nassehi aus München, ein Systemtheoretiker, sagt hier klar: “Nein.” Die Menschen seien so an das bestehende System gewohnt, dass sich die bestehende Gesellschaftsordnung nicht so schnell ändern wird. Was die Oberfläche angeht, da stimme ich ihm zu, aber ich glaube, dass sich derzeit viel in der Norm- und Wertekultur der Gesellschaft bewegt. Ich weiß nur nicht, ob sie sich negativ oder positiv verändern wird. Es kann passieren, dass die Starken noch stärker werden und die Schwachen weiter abrutschen. Ich hoffe aber, dass wir jetzt merken, wie wichtig etwa Solidarität und auch Nachhaltigkeit sind.

Ich hoffe, dass wir die Gefahren und Verletzlichkeiten, die uns umgeben, zukünftig anderes bewerten und deshalb vorsichtiger mit uns und unserer Umwelt umgehen. Und dass wir als kritisches Kollektiv mit dem Finger auf diejenigen zeigen, die nicht adäquat handeln und sie dazu bewegen, Verantwortung zu übernehmen und sich nicht hinter vermeintlichen Systemzwängen zu verstecken, denn der einzige Systemzwang ist wohl, dass wir scheitern, wenn wir unsere Geschicke nicht selbst in die Hand nehmen.

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