print print
favorites-circle favorites-circle
favorites-circle-full favorites-circle-full
Ungleichheit

Schulden in der Corona-Krise: "Die Menschen lernen mit der Angst zu leben."

40 Prozent mehr KlientInnen erwartet Bernhard Sell von der Schuldnerberatung Wien in der nächsten Zeit. "Die Rückstände werden größer, der Druck wird größer", sagt er im Interview mit MOMENT.

Bernhard Sell ist Schuldnerberater in Wien. Die Wirtschaftskrise infolge der Coronavirus-Pandemie kommt jetzt auch bei ihm und seinen KollegInnen an. 40 Prozent mehr KlientInnen erwartet er im kommenden Jahr. „Die Rückstände werden größer, der Druck wird größer“, sagt er im Interview mit MOMENT. Er erklärt, worauf verschuldete Menschen achten müssen und warum es in Österreich so schwer ist, Schulden hinter sich zu lassen.

 

MOMENT: Die erste Welle der Coronavirus-Pandemie ist vorbei, die Hilfsgelder und Stundungen laufen langsam aus. Kommt jetzt die Insolvenzwelle?

Bernhard Sell: Sie kommt, aber wann genau ist noch nicht ganz klar. Der Gesetzgeber hat entschieden, Kreditstundungen noch weiter zu gewähren. Auch die Gläubiger arbeiten noch nicht auf „vollen Touren“.  Eine Zeit lang waren auch die Gerichte geschlossen und wir Schuldnerberatungen konnten kaum Insolvenzanträge einbringen, insofern ist sicher eine Art Rückstau entstanden.

 
MOMENT: Wie viele Menschen werden betroffen sein?

Sell: Unsere Hauptklientel sind Arbeitslose und ehemalige Selbständige. Beide Gruppen sind derzeit extrem betroffen von der Krise. Es gibt eine einfache Rechnung: Über die letzten 20 Jahre landeten acht Prozent der Arbeitslosen bei uns in der Schuldnerberatung. Wenn wir jetzt in Wien 50.000 Arbeitslose mehr haben, dann kommen wir auf 4.000 neue Klienten. Derzeit haben wir 11.000 Personen, die wir beraten. Also erwarten wir im nächsten Jahr 40 Prozent mehr Klienten und bräuchten entsprechend mehr Personal.

MOMENT: Kommen jetzt auch Leute zu ihnen, die sich selbst zur Mittelschicht zählen und nie gedacht hätten, mal zu einer SchuldnerInnenberatung gehen zu müssen?

Sell: Wir merken es an den Menschen, die jetzt anrufen. Das sind verstärkt Noch-Selbständige. Die wissen teilweise schon, dass es nicht weitergehen wird. Sie nutzen jetzt vielleicht noch ein paar Fördertöpfe, ihr Unternehmen ist aber eigentlich schon tot. Gerade bei den ganz Kleinen ist es so: Sie müssen von den Umsätzen die Kosten für die Selbständigkeit zahlen, also Krankenkasse, Sozialversicherung, Finanzamt, Geschäftsmieten.

Dazu kommen aber auch noch die private Miete, private Energierechnung, die Lebenshaltung. Alles muss aus dem Umsatz kommen. Jetzt hatten sie aber de facto keine Umsätze. Wenn das Geschäft wieder anläuft, dann wird es erstmal weniger sein. Aus diesen geringeren Umsätzen auch noch die Rückstände aufzuholen, das erscheint in vielen Fällen nicht vorstellbar. Das wissen die Menschen.

MOMENT: In der Corona-Krise wurden Stundungen gewährt. Aber irgendwann kommen die VermieterInnen, Energieunternehmen, die Sozialversicherung ja doch wieder auf einen zu und wollen Ihr Geld.

Sell: Ja, irgendwann kommt das zurück und es wird immer mehr. Die Rückstände werden größer, der Druck wird größer. Man muss auch sagen: Die Menschen lernen ein bisschen mit der Angst zu leben. Es war eine politische Entscheidung, es mit Stundungen zu machen. Die ganzen Stundungen müssen trotzdem gezahlt werden. Das Problem ist nur aufgeschoben.

MOMENT: Ist das also aus Ihrer Sicht eine schlechte Lösung?

Sell: Ich kann nicht sagen, ob das gut oder schlecht ist. Es ist ein Bemühen, das noch irgendwo zu retten. Man gibt den Menschen eine Hoffnung, aber es ist wahrscheinlich ein Hinauszögern einer Problematik, die auf der Hand liegt: Man kann nichts aufrechterhalten und man kann es nicht aufholen, was jetzt nicht gezahlt wurde.
 

MOMENT: Wurden aus Ihrer Fehler gemacht beim Versuch, den kleinen Untnerhmen zu helfen?

Sell: Ja, die finanziellen Hilfen hätten als Zuschüsse ausgezahlt werden müssen.

MOMENT: Offene Mieten, Energierechnungen, Kredite: Was belastet verschuldete Menschen am stärksten?

Sell: Psychologisch sind immer die Bankschulden am belastendsten. Aber in Wahrheit sind es die anderen Schulden: Miete, Energie, Heizung, das sind die existenziellen Schulden. Da sagen wir immer, darum musst Du Dich kümmern. Wenn ich jetzt im August die Miete nicht zahlen konnte, kann ich delogiert werden. Nur wer jetzt Mietschulden aus den Monaten März bis Mai, darf erst Anfang des nächsten Jahres geklagt und delogiert werden. Da muss ich den Menschen sagen: Es ist jetzt wirklich nicht wichtig, die Kreditrate zu zahlen. Es ist wichtig die Wohnung zu erhalten!

MOMENT: Aber wie kann jemand Mietschulden begleichen, wenn er keine Substanz hat?

Sell: Es werden oft Zahlungen geleistet, die nicht wichtig sind. Kredite weiterbezahlt, hoher Aufwand für Kontoüberzug betrieben. Das muss man umschichten. Es gibt Stellen die Mietrückstände übernehmen können. Es gibt Ombudsstellen, die vermitteln können gegenüber Energieanbietern.

MOMENT: Müssen Sie auch psychologische Arbeit leisten?

Sell: Ja! Wir müssen rechtliche Dinge klären, aber auch die psychische Komponente berücksichtigen. Da kommen ja Menschen, die nicht nur überschuldet sind. Sondern die haben schwere Krankheiten oder schlimme Lebensereignisse hinter sich. Deshalb arbeiten hier vorwiegend Sozialarbeiter. Die rechtlichen Sachen sind erlernbar. Aber für das andere muss ein Skill und eine Ausbildung da sein.

MOMENT: Wie passiert es, dass Menschen in der Schuldenfalle landen, da nicht mehr rauskommen und schlussendlich zu Ihnen kommen?

Sell: Die meisten Haushalte in Österreich sind verschuldet. Das heißt, sie zahlen irgendwelche Kredite ab. Dann gibt es einen Schritt, an dem sie das nicht mehr zurückzahlen können – es sei denn sie erben oder gewinnen einen Lotto-Sechser. Dieser Schritt ist sehr oft der Verlust des Arbeitsplatzes oder eine Selbständigkeit, die scheitert.

Es kann ein gravierender Lebenseinschnitt sein: Schwere Krankheit, ein Unglücksfall, eine Scheidung oder Trennung. Oder eine Bürgschaft: Jemand anderes zahlt seine Schulden nicht und ich komme dran. Es reicht auch, dass die Lebenspartnerin den Arbeitsplatz verliert und das Haushaltseinkommen sinkt.

MOMENT: Und dann?

Sell: Dann wird oft nicht gemacht, was wir raten: Es muss auf dieser Basis ein neuer Finanzcheck gemacht werden. Alles muss neu geplant werden, vielleicht die Wohnung gewechselt werden. Stattdessen leben viele weiter auf dem alten Niveau und geraten in den Kontoüberzug. Das ist immer die Einstiegs-Fahrkarte. Wenn nichts mehr geht, wird viel mit Online-Bestellung gemacht, mit bargeldlosen Geschäften.

Jetzt in der Coronavirus-Pandemie haben wir ein großes Problem: Wir sagen immer, nehmt eine Geldbörse, zahlt mit Bargeld, macht eine Liste. Das können wir jetzt nicht sagen, weil bargeldlose Zahlung empfohlen wird. Aber je mehr bargeldlos eingekauft wird, umso leichter geht der Überblick verloren. Das ist jetzt eine neue größere Schuldenfalle geworden. Es ist sehr leicht Konten zu überziehen, es ist sehr leicht kleine Konsumkredite zu bekommen. Die Summe macht es dann oft aus.

MOMENT: Beim momentanen Mietmarkt kann es möglicherweise teurer werden, eine kleinere Wohnung neu anzumieten. Ein Problem?

Sell: Ja, das ist schon so. Es ist ein Problem, dass die Wohnungskosten fast die Hälfte der Fixkosten ausmachen, und dass diese Kosten so gestiegen sind in den letzten Jahren. Das können wir nicht wirklich beeinflussen und auch nicht optimieren.

MOMENT: Und was empfehlen Sie dann? Erstmal das Auto abstoßen?

Sell: Ja, das ist in Wien ein großes Thema. Zum Beispiel ein Auto zu leasen ist etwas, was wahnsinnig viel Geld kostet. Wenn sie sich so einen Vertrag einmal wirklich anschauen, dafür kann die ganze Familie dreimal mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren.

MOMENT: Am Land wird das schwieriger. Da bekommen sie ohne Auto manche Jobs nicht.

Sell: Klar, da muss man anders beraten. Für wen es beruflich notwendig ist, dem kann ich nicht sagen: Auto weg. Das größte Hindernis, jemanden erfolgreich am Arbeitsmarkt zu vermitteln, sind neben Vorstrafen die Schulden. Jemand mit 20 laufenden Lohnpfändungen ist nicht vermittelbar.

MOMENT: Weil der Arbeitgeber die Lohnpfändung sieht?

Sell: Zunächst einmal will er es im Vorstellungsgespräch wissen. Das kann man da zwar verschweigen, aber der Arbeitgeber bekommt das schon schnell mit. Wenn laufend Lohnexekutionen reinkommen, ist das für die Firmen ein Riesenaufwand und auch eine Sache der Haftung. Der Lohnverrechner hat dann doppelte Arbeit. Deshalb nehmen sie überschuldete Menschen lieber nicht. Bei gleicher Qualifikation können sie sicher sein, dass der mit Schulden den Job nicht bekommt.

MOMENT: Wie könnte man diese Form der Diskriminierung beseitigen?

Sell: Da gibt es Möglichkeiten, die schlagen wir auch vor. Aber in Österreich ist das noch nicht durchsetzbar. In der Schweiz gibt es ein Amt, das die gesamten Betreibungen extern bearbeitet, damit das nicht beim Dienstgeber landet. Damit sind verschuldete Menschen genauso vermittelbar.

MOMENT: Im internationalen Vergleich: Wie schwer ist es, in Österreich aus Schulden wieder rauszukommen?

Sell: Die EU hat eine Richtlinie ausgegeben. Wir müssten in Österreich eine Novelle der Insolvenzordnung durchsetzen und das Insolvenzverfahren auf drei Jahre verkürzen statt wie jetzt fünf oder sieben Jahre. Das würde gerade denen, die von der Corona-Krise besonders betroffen sind am meisten helfen: Nämlich den Ein-Personen-Unternehmen und den kleinen und mittelständischen Unternehmen. Jetzt wäre eine Chance das umzusetzen.

MOMENT: Und was spricht dagegen?

Sell: Jeglichen Erleichterungen für Schuldnern stehen die Wirtschaftskammer und die Banken entgegen. Die sagen, die Menschen würden das Insolvenzverfahren ausnutzen. Sie würden auf großem Fuß leben, dann in Konkurs gehen und nach drei Jahren wieder anfangen.

MOMENT: Stimmt das?

Sell: Es ist ein schwaches Argument. Es gibt so viele Möglichkeiten, Menschen, die das Insolvenzrecht ausnutzen wollen, daran zu hindern. Es gibt schon jetzt strafrechtliche Bestimmungen in den Insolvenzordnungen, die das verhindern. Nein, diese Argumente sind wirtschaftliche Überlegungen.

Andererseits wären die Banken bei kürzerer Insolvenzzeit gezwungen, zu überlegen, wem sie einen Kredit geben. Wenn ich den so risikoreich vergeben, kann es sein, dass ich nach drei Jahren nur einen Bruchteil bekomme.

MOMENT: Ist es in Österreich also schwieriger, nach einer Pleite wieder aufzustehen und das abzuschütteln?

Sell: Das ist schon gesetzlich schwierig. Man müsste das Datenschutzgesetz einmal angehen und dafür sorgen, dass Menschen, die ihre Schulden geregelt haben und schuldenfrei sind, nicht sieben Jahre vorgemerkt bleiben nicht einmal einen Versicherungsvertrag abschließen können. Das müssen wir den Datenspeicherern verbieten, so lange die Menschen in der Kartei zu halten.

MOMENT: Sind diese Sperren auch ein Schutz davor, nicht gleich wieder Schulden zu machen?

Sell: Es ist vor allem ein Schutz für die Gläubiger, dass sie nicht Kredite vergeben an so jemanden. Wenn aber jemand sieben Jahre seine Schulden abgezahlt hat, die Quote erfüllt hat und dann noch einmal sieben Jahre vorgemerkt bleiben soll und keinerlei Bonität hat, ist das schwer. Oder jemand, der nur eine Mithaftung unterzeichnet hat und deshalb in Konkurs gehen muss. Der muss dann sieben Jahre lang abzahlen und ist sieben Jahre lang vorgemerkt, nur weil er eine Unterschrift geleistet hat.

MOMENT: Steht der Schutz von GläubigerInnen in Österreich höher als die Hilfe für private SchuldnerInnen?

Sell: Der Gläubigerschutz ist in Österreich sehr hoch. Die Möglichkeiten der Gläubiger, zu ihrem Geld zu kommen, sind in Österreich sehr gut. Das Existenzminimum bis zu dem gepfändet werden ist viel tiefer als beispielsweise in Deutschland. Es kann hier viel mehr abgeschöpft werden. Dabei sind die Lebenshaltungskosten ja vergleichbar hoch.

 

    Neuen Kommentar hinzufügen

    Kommentare 0 Kommentare
    Kommentar hinzufügen

    Neuen Kommentar hinzufügen

    Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Beitrag!