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Volle Klassen, leere Kassen: Warum Eltern und Pädagog:innen in Wien wieder demonstrieren

Im Juni des vorigen Jahres ging die Wiener Initiative „Bessere Schule jetzt!“ bereits auf die Straße. Grund war eine Reform der Lehrerstundenverteilung. Die bringt laut der NGO unverhältnismäßige Sparmaßnahmen an Schulen in Wien mit sich. Weil sich die Initiative noch immer nicht von Stadt und Bund gehört fühlt, demonstrieren Eltern und Pädagog:innen jetzt wieder.
 

Martina* unterrichtet seit 32 Jahren an einer Schule in Wien, und am Telefon klingt es jedenfalls so, als unterrichte sie nach wie vor mit Leidenschaft. Ihre Volksschule galt vor zwanzig Jahren als Vorzeigeprojekt bei der Einführung von Integrationsklassen für Kinder mit Behinderung. Martina erzählt stolz von damals: “Da waren EU-Abgeordnete da, um sich das anzuschauen.“

Heute sieht sie das erfolgreiche Lehrmodell an ihrer Schule in Gefahr. “Uns werden seit Jahren die Ressourcen genommen”, sagt sie. Wo früher noch 2 bis 3 Lehrkräfte für eine mehrstufige Integrationsklasse zuständig waren, bleibt heute nur noch eine. Auch die sogenannte verschränkte Ganztagsschule, bei der Lehrer:innen gemeinsam mit Freizeitpädagog:innen arbeiten, sieht sie durch den Ressourcenabbau in Gefahr: “Da kommt dann jede Stunde ein:e neue Pädagog:in rein, für die Kinder ist das total überfordernd.”

Dieses Jahr wurden die Lehrerstunden an Martinas Schule abgebaut, weshalb man sich mit dem Mangel “irgendwie durch das Jahr gekämpft” habe. Jedes Jahr müssen sie und ihre Kollegin an den Schulen in Wien aufs neue um die Stunden zittern. Martina ist sich sicher: “Da entscheiden Leute über die Lehrerstundenverteilung, die keine Ahnung haben, wie das an einer Schule funktionieren soll.”

“Bessere Schule jetzt!”: Eltern und Pädagog:innen fordern mehr Geld, Transparenz und Planungssicherheit an Schulen in Wien

Martina ist deshalb Teil der Initiative “Bessere Schule jetzt!”. Die hat sich im vergangenen Jahr in Wien zusammengeschlossen. Die NGO wirft Bildungsdirektion, Stadtregierung und Bund vor, dass Schulen in Wien zu wenig Ressourcen, vor allem für sonderpädagogische Projekte, bereitgestellt werden. Das führe zu „Mangelverwaltung“ an den Schulen, die Schulleitungen wissen nicht, wie sie mit den wenigen Stunden stressfrei über das Jahr kommen. Trotz einiger runder Tische mit Bildungsdirektor Heinrich Himmer habe sich laut Initiative bis heute wenig geändert. Deshalb ruft sie am 21. Juni erneut zur Demo auf.

Ein alter, aber nach wie vor aktueller Kritikpunkt: überfüllte Klassenzimmer. Bereits 2021 bemängelte man, dass Lehrerstunden in Wien per Reform durch einen neuen Schlüssel aufgeteilt werden: Während bisher die Zahl der Klassen entscheidend dafür war, wie viele Wochenunterrichtsstunden pro Schule verteilt werden, sind es nun die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die insgesamt unterrichtet werden. Diese Zahl werde durch 25 geteilt, was bisher der Höchstzahl pro Klasse entsprach. Praktisch heißt das: Schulen, die kleine Klassen haben, erhalten weniger Stunden. Die Klassen drohen aufgelöst und auf andere aufgeteilt zu werden. Denn erst bei einer Klassengröße von 25 Schüler:innen erhalten Schulen die Basisfinanzierung für eine Lehrperson. Früher war das die Klassen-Höchstzahl.

Neuer Personalschlüssel sorgt für Ärger

Dazu kommt ein Indexzuschlag, der zusätzliche Unterrichtseinheiten verteilt. Durch ihn sollen sogenannte Brennpunktschulen mehr Ressourcen erhalten – die allerdings anderswo weggenommen werden. Ein Mini-Chancenindex sollte Schulen mehr Lehrerstellen zuweisen, die viele Kinder mit erhöhtem Förderbedarf unterrichten. Darin fließt beispielsweise berufliche Status der Eltern ein, welche Erstsprache die Kinder sprechen und wie viele von ihnen Migrationshintergrund haben.

Auch mehrstufige Integrationsklassen bekommen eine Lehrkraft für Kinder mit Sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) zugeteilt. Die Ressourcen für diese Kinder sind vom Bund jedoch gedeckelt. Da in Wien deutlich mehr Kinder mit Förderbedarf leben, müssen die nötigen Ressourcen (in Form von Lehrkräften) anderen Kindern weggenommen werden. “Wir dachten letztes Jahr, dass die Stundenverteilung Schuld am Ressourcenmangel ist”, sagt Initiatorin Barbara Trautendorfer, selbst Mutter zweier Kinder im Volksschulalter. Mittlerweile sei man aber noch pessimistischer: So hapere es nicht nur bei der Aufteilung der Lehrstunden durch die Stadt, sondern auch an der Menge der Stunden, die das Bildungsministerium für Wien zur Verfügung stellt. “Bund und Stadt schieben sich da gegenseitig die Schuld in die Schuhe”, sagt Trautendorfer.

Auch Direktor:innen klagen über Bürokratie

Neben den Eltern und Pädagog:innen, die die Bildung bedürftiger Kinder in Gefahr sehen, klagen auch Schulleiter:innen über den Ressourcenmangel: Eine Direktorin, die anonym bleiben möchte, spricht vor allem über fehlende Planungssicherheit, die beim Erstellen der Stundenpläne fehle. Jetzt, im Juni, wüsste sie noch nicht, wie es im Herbst weitergehen soll, da sie noch keine Informationen über ihre Kontingente bekommen habe. Das mache nicht nur ihr, sondern vor allem Junglehrer:innen das Leben schwer, die jetzt noch nicht wissen, ob sie an der Schule bleiben können. Die Direktorin müsse ein Konzept entwerfen, das die wenigen Stunden dennoch gerecht und effektiv auf ihr Personal aufteilt. Die Planung eines Stundenplans, der sowieso noch in der Schwebe steht, müsse sie in ihrer Freizeit abwickeln.

Streit um Schulen in Wien: Bildungsdirektion kann viele Forderungen nicht nachvollziehen

Bei der Bildungsdirektion Wien hat man indes nicht mehr so viel Verständnis für die Demonstrant:innen wie noch vor einem Jahr. Fehlende Transparenz möchte die Bildungsdirektion sich nicht vorwerfen lassen: Immerhin haben alle Schulen einen Kontingentrechner bekommen, mit dem 90 % der Stunden automatisiert ausgerechnet werden können.

Auch der Vorwurf von Lehrerin Martina, dass die sogenannte „verschränkte Ganztagsschule“, also die gemeinsame Arbeit von Lehrer:innen und Freizeitpädagog:innen, Makel aufweist, weist die Bildungsdirektion ab. “Die verschränkten Ganztagsschulen funktionieren gut und sind hochwertig”, heißt es auf Anfrage von MOMENT. Für die Mehrstufenklassen seien indes 10 zusätzliche Stunden bereitgestellt worden, worüber die Initiative bereits informiert worden sei. “Wir können nicht verstehen, wieso die Initiative Gegenteiliges sagt.” Insgesamt werden an Schulen in Wien 2.500 Planstellen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu Verfügung gestellt. Nach Antwort der Bildungsdirektion lässt die Presseabteilung von Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) ausrichten: “Dem Statement der Bildungsdirektion ist nichts mehr hinzuzufügen.”

Den erneuten Protesten scheint die Stadt also nicht weiter allzu viel Aufmerksamkeit schenken zu wollen, das letzte Wort scheint gesprochen. Das liegt wohl auch daran, dass die Hände in Bezug auf die Forderungen nach mehr Stunden, Geld und Personal sowieso gebunden sind. So die Bildungsdirektion: “Klar ist auch, dass die Deckelung des sonderpädagogischen Förderbedarfs durch den Bund die realen Bedarfe in diesem Bereich nicht abdeckt. Dies wird seitens aller Bundesländer immer wieder kritisiert.”

Dass grundsätzlich Personalmangel herrscht, streitet bei der Bildungsdirektion jedenfalls niemand ab. “Alle Bundesländer haben mit begrenzten Personalressourcen im pädagogischen Bereich zu kämpfen”, heißt es. Man sei im engen Austausch mit den Nachbar-Bundesländern und hoffe, dass das Bildungsministerium rasche Maßnahmen für zusätzliche Lehrkräfte, zum Beispiel Quereinsteiger:innen, schafft.

Auch die anonyme Schuldirektorin teilt MOMENT von dem einen Missstand mit, über den sich alle einig sind: “Wir werden im Herbst eine Pensionierungswelle erleben und wissen noch nicht, wie wir nachbesetzen wollen.” Das größte Problem scheint der Lehrer:innenmangel zu sein. Gleichzeitig wissen junge Lehrer:innen noch nicht, ob sie im Herbst unterrichten dürfen.

Während sich Stadt, Initiative und der Bund streiten, muss freilich vor allem eine Gruppe mit dem Mangel in der Bildung klarkommen: die Kinder.

*Name von der Redaktion geändert.

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