Bürokratieabbau: Wer profitiert, wenn Schutzstandards fallen?
Die Rhetorik folgt einem bekannten Muster. Bürokratie wird zum Sündenbock erklärt, ist Synonym für einen angeblich übergriffigen und ineffizienten Staat, der Fortschritt und Freiheit behindere. Diese Erzählung hat Tradition: Schon im 18. Jahrhundert wurde „Bürokratie“ spöttisch als Herrschaft der Schreibtischtäter gebrandmarkt. Im aktuellen politischen Diskurs feiert dieses Narrativ ein Comeback, befeuert von populistischen und wirtschaftslibertären Kräften, die damit gezielt Ressentiments schüren. In den USA will man mit der “Kettensäge” gegen den Staat vorgehen und auch in Europa trommeln prominente Stimmen, „mehr Musk und Milei zu wagen“. Ein Verweis auf den Tech-Milliardär Elon Musk und den radikal liberalen argentinischen Präsidenten Javier Milei, die beide den Staat als hinderliches Übel betrachten. Solche Parolen finden durchaus Anklang. Wer ist schon dagegen, wenn versprochen wird, Regulierung effizient, bürgernah und ohne unnötige Doppelstrukturen zu gestalten? Bürokratieabbau klingt erstmal nach weniger Formularen am Amtsschalter. Tatsächlich aber geht es in der politischen Praxis zumeist um Regelwerke, die Unternehmen Kosten verursachen, nicht Bürger:innen Wartezeiten.
Das Phänomen ist europaweit zu beobachten. Auf EU-Ebene läuft derzeit eine Deregulierungswelle, die von der Kommission als Vereinfachung verkauft wird, aber wesentliche Errungenschaften des European Green Deal gefährdet. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat angekündigt, zentrale Umwelt- und Sozialvorschriften im Eiltempo “bürokratiearm” umzugestalten. Im März 2025 präsentierte die EU-Kommission einen ersten Vorschlag, der den Green Deal aufweicht. Begründet wurde dies mit dem Ziel, EU-Vorschriften „zu vereinfachen“ und jährlich 6,3 Milliarden Euro Verwaltungskosten einzusparen. Das passiert vor allem, indem man den Anwendungsbereich der Gesetze verkleinert und ihre Einführung verzögert. Der Aufwand für große Unternehmen soll um 25 Prozent sinken, bei mittelständischen sogar um 35 Prozent.
Unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus versteckt sich ein Rollback zentraler Nachhaltigkeitsstandards. So soll die Berichtspflicht über ökologische und soziale Unternehmensleistungen drastisch beschnitten werden. Firmen mit bis zu 1.000 Mitarbeitenden und 50 Mio. Euro Umsatz, (das sind etwa 80 Prozent der ursprünglich betroffenen Unternehmen), wären künftig ganz davon befreit. Die verbleibenden Großunternehmen müssten ihre ersten Nachhaltigkeitsberichte erst 2028 statt wie geplant 2026 vorlegen.
Das könnte dir auch interessieren
Die Deregulierungsrhetorik macht auch vor dem Arbeitsrecht oder Verbraucherschutz nicht Halt. Immer wieder werden etwa Produktsicherheits- oder Kennzeichnungsvorschriften als Regelungswut diffamiert. Dabei wurden viele dieser Regeln eingeführt, um die Bevölkerung vor realen Gefahren zu schützen: Ob es nun um Lebensmittelsicherheit, technische Geräte oder irreführende Werbung geht. Wenn nun in der EU die geplante Verordnung gegen Greenwashing begraben wird, bedeutet das: Verbraucher:innen haben weiterhin keinen wirksamen Schutz vor falschen Nachhaltigkeitsversprechen großer Konzerne.
Dieselben wirtschaftsliberalen Lobbys und Parteien, die immer auf Eigenverantwortung von Konsument:innen zur Lösung von ökologischen und sozialen Probleme setzen, machen es ebendiesen Konsument:innen de-facto unmöglich, bewusst und eigenverantwortlich zu agieren: selbst wer ethisch konsumieren möchte, kann es nicht, wenn die Informationen darüber fehlen, wie (wenig) nachhaltig Unternehmen produzieren.
Ein anderes Beispiel liefert die Debatte um den Arbeitsschutz in Deutschland. Im März 2025 zog CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in einer TV-Talkshow über angeblich absurde Sicherheitsvorschriften her. Er verpottete die Pflicht, Leitern regelmäßig prüfen zu lassen, als Quatsch, den man abschaffen sollte – dies sei Ausdruck eines “Misstrauens des Staates gegenüber seinen Bürgern.” Die Botschaft dahinter: Der Staat schikaniere Unternehmen und Beschäftigte mit unnötigen Kontrollen. Arbeitsmediziner:innen und Unfall-Expert:innen schlugen daraufhin Alarm. Die regelmäßige Leiterprüfung sei keineswegs sinnlose Bürokratie, sondern eine lebenswichtige Vorschrift, hielt etwa der Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit (VDSI) entgegen. Defekte oder ungeprüfte Leitern führten jährlich zu zahlreichen Unfällen, die Regelung schütze Menschenleben.
Dieser Konflikt macht deutlich, was auf dem Spiel steht: Unter dem Schlagwort Bürokratieabbau geraten Kernprinzipien des Arbeitsschutzes unter Druck. Wo Kontrollen gelockert oder Dokumentationspflichten gestrichen werden, drohen schlechtere Arbeitsbedingungen und mehr Unfälle. Ähnliches gilt im Bereich der Arbeitszeit- und Beschäftigungsregeln. In mehreren Ländern wurden in den vergangenen Jahren Regelungen flexibilisiert, um angeblich unnötige bürokratische Belastungen für Arbeitgeber:innen abzubauen. In Ungarn erlaubte die rechtsnationale Regierung 2018 per Gesetz bis zu 400 Überstunden pro Jahr (statt zuvor 250) und räumte Firmen das Recht ein, den Ausgleich dafür erst nach drei Jahren auszuzahlen. Das Gesetz wurde von Kritikerinnen als “Sklavengesetz” gebrandmarkt und löste Massenproteste aus, weil es Beschäftigte de facto zu unbezahlter Mehrarbeit zwingen konnte. Die Regierung verkaufte die Maßnahme als Flexibilisierung zugunsten der Wirtschaft. Ein klassischer Fall, in dem Deregulierung auf Kosten der Arbeitnehmer:innen geht. Letztlich eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen unter dem Deckmantel der Entbürokratisierung.
Die Abrissbirne gegen den Staat hat Tücken. Oft wird vollkommen ausgeblendet, warum eine bestimmte Regel überhaupt existiert. Tatsächlich entsteht Bürokratie nicht zum Selbstzweck, sondern weil Bürger:innen genau diese Regeln eingefordert haben, um sich vor Gefahren, Ausbeutung oder Betrug zu schützen. Bürokratie ist in diesem Sinne nichts anderes als die institutionalisierte Garantie von Fairness, Sicherheit und Berechenbarkeit. Sie sorgt dafür, dass nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern transparentes Verwaltungshandeln und Rechtsstaatlichkeit. “Schutz vor Willkür”, wie Max Weber es nannte.
Deshalb ist Bürokratie nicht per se gut oder schlecht. Sie legitimiert sich nur, wenn sie die richtigen Dinge regelt. Kontrolle dort, wo Machtkonzentration besteht, Erleichterung dort, wo staatlicher Ehrgeiz Alltagsleben ohne Mehrwert verkompliziert. Ein ehrlicher Diskurs müsste daher bei jedem Reformvorhaben drei Fragen stellen: Wessen Aufwand wird konkret reduziert? Welche Schutz‑ oder Transparenzfunktion geht möglicherweise verloren? Kann der Staat denselben Zweck mit weniger Aufwand erreichen? Eine Debatte, die sich an diesen Fragen orientiert, könnte tatsächlich zu einer besseren Verwaltung beitragen. Wer es damit ernst meint, der könnte als ersten Schritt die 50 Vorschläge der überparteilichen “Initiative Bessere Verwaltung” allein für die Bundesverwaltung in Angriff nehmen und einen nach dem anderen abarbeiten.
Wird nun stattdessen unter dem Applaus der Bürokratiekritiker:innen eine Vorschrift nach der anderen kassiert, droht am Ende ein Pyrrhussieg. Die Wirtschaft mag kurzfristig weniger Pflichten haben, doch die Gesellschaft zahlt langfristig einen hohen Preis. Umweltzerstörung, Verbraucherbetrug, unsichere Arbeitsplätze oder soziale Schieflagen könnten zunehmen, wenn Kontrollinstanzen und Regeln fehlen. Selbst vielen Unternehmen dürfte ein Wildwuchs an Deregulierung letztlich schaden. Auch sie verlieren den verlässlichen Rahmen, in dem alle nach denselben Spielregeln handeln.
Das könnte dir auch gefallen
- Kündigung auf Zeit: Ein Geschäftsmodell auf Kosten Aller
- Bürgergeld-Studie in Deutschland: So wird endlich einmal richtig über die Sozialhilfe diskutiert
- Keine Abgabe auf Trinkgeld mehr? Lieber das Trinkgeld abschaffen!
- “Wir” müssen weniger arbeiten, auch wenn Friedrich Merz das Gegenteil sagt
- Ein Ökonom im falschen Haus
- Teilzeit bestrafen? Das trifft die Falschen – und schwächt die Wirtschaft
- Falsche Debatte um Arbeitslosigkeit: Wir müssen Jobs schaffen statt Zuverdienste zu streichen
- Gegengelesen: “Heute” und „Agenda Austria“ bejubeln, dass Arbeitslose nichts mehr dazu verdienen dürfen