Ungleichheit
Demokratie

Kinderwahlrecht durch Eltern: Progressiver Anstrich, problematischer Kern

Familien kommen zu kurz in der Politik. Höchste Zeit, ihnen mehr Stimmen zu geben, so die jüngst formulierte Forderung. Ein Kinderwahlrecht klingt zunächst nach mehr Gerechtigkeit für junge Generationen – doch die Idee ist problematisch. Barbara Blaha kommentiert.

Wer für ein Kinderwahlrecht eintritt, will gar nicht, dass Kinder wählen. Gemeint ist, dass Eltern stellvertretend für ihre minderjährigen Kinder zusätzliche Stimmen erhalten und abgeben dürfen. Befürworter:innen wie die Soziologin Jutta Allmendinger argumentieren, dadurch würden Familien politisch stärker legitimiert und Parteien gezwungen, mehr an die Zukunft und an familienfreundliche Politik zu denken.

Das Wahlrecht ist die zentrale Institution, in der sich staatsbürgerliche Gleichheit manifestiert: Jeder Mensch, ob arm oder reich, klug oder einfach gestrickt, hat exakt eine Stimme – keine mehr, keine weniger. Diese Gleichheit aufzugeben, indem Eltern zusätzliche Stimmen stellvertretend für ihre Kinder erhalten sollen, ist ein Rückfall in vordemokratische Zeiten.

Wer fordert das „Wahlrecht ab Geburt“ – und warum?

Historisch betrachtet gehörte es zu den Privilegien des grundbesitzenden Familienvaters, für den gesamten Hausstand inklusive „Gesinde“ (die Beschäftigten im eigenen Haus) zu wählen. Diese patriarchale Praxis wurde aus guten Gründen überwunden. Ein modernes Wahlrecht gründet auf der Würde und Gleichheit jedes einzelnen Menschen – nicht auf einer religiös oder ideologisch überhöhten Vorstellung der Familie als vermeintlicher Keimzelle der Gesellschaft.

Nicht zufällig bringen das Kinderwahlrecht immer wieder Akteur:innen aus dem konservativen Lager aufs Tapet. In Österreich sprachen sich in der Vergangenheit etwa Vertreter der ÖVP sowie kirchliche Organisationen wie der Katholische Familienverband immer wieder dafür aus. Sie begründen dies gerne mit „Generationengerechtigkeit“ und dem Hinweis, Kinder hätten ohne Stimmrecht keinerlei politische Stimme

Hinter solchen hehren Schlagworten verbergen sich handfeste ideologische und machtpolitische Motive. Konservative Parteien wie die ÖVP rechnen sich mit einem Familienwahlrecht Vorteile aus, weil klassische Familien tendenziell ihre Klientel bilden. Vater, Mutter, am besten mehrere Kinder – dieses Modell soll politisch belohnt und gestärkt werden. Gleichzeitig würde der Einfluss von Menschen ohne (oder mit weniger) Kindern relativ geschmälert. Kurz gesagt: Ein Kinderwahlrecht verschiebt die politische Gewichtung zugunsten bestimmter sozialer Gruppen.

Historische und internationale Warnsignale

Ein Blick in die Geschichte und ins Ausland zeigt, dass das Kinder- bzw. Familienwahlrecht selten progressive Erfolge feierte – im Gegenteil. Bereits 1893 wurde in Belgien eingeführt, dass Männer mit „legitimen Nachkommen“ eine zusätzliche Stimme erhielten. Dieses Mehrstimmenrecht für Familienväter wurde später als undemokratische Ungleichbehandlung abgeschafft.

Aktuell findet die Idee wieder in rechten Kreisen Anklang: So plante Viktor Orbáns Regierungspartei Fidesz 2011 in Ungarn, Eltern für ihre Kinder mitwählen zu lassen – umgesetzt wurde es letztlich nicht. Auch Marine Le Pens Rassemblement National in Frankreich oder belgische Nationalisten forderten ein solches „Wahlrecht von Geburt an“. 

Eltern wählen für sich, nicht ihre Kinder

Die Vorstellung, Eltern könnten treuhänderisch allein „im Interesse ihrer Kinder“ wählen, ist fragwürdig. Das Wahlrecht ist etwas höchst Persönliches. Es gibt und darf keine Stellvertretung geben – aus gutem Grund. Niemand darf seine beste Freundin bitten, doch für ihn wählen zu gehen. Warum also sollten Eltern im Namen ihrer Kinder wählen dürfen? 

Auch die Umsetzung wäre entsprechend absurd: Welcher Elternteil darf denn das Wahlrecht ausüben? (In Belgien, Frankreich, Tunesien und Marokko des 19. Jahrhunderts erhielt grundsätzlich der Vater das Wahlrecht.) Dürfen biologische oder soziale Eltern wählen? Und was ist mit allen Kindern hierzulande, deren Eltern keine Staatsbürgerschaft haben? Oder wenn Eltern verstorben sind? Dürfen dann die Großeltern einspringen? 

Doch selbst wenn man die Umsetzung hinbekäme, am Ende bleibt übrig, dass hier nicht tatsächlich Kinder ihre Meinung einbringen, sondern Erwachsene Mehrfachstimmen erhalten. Die politische Macht würde ungleich verteilt. Weder wird dadurch echte Beteiligung von jungen Menschen verwirklicht, noch hilft es, strukturelle Probleme wie Altersarmut, Kinderarmut oder Ungleichverteilung anzugehen.

Hinter dem Ruf nach „mehr Gerechtigkeit für Familien“ stecken konservative Wertvorstellungen und Machtkalküle – man möchte das traditionelle Familienbild stärken und politische Umverteilung zugunsten bestimmter Klientele erreichen, anstatt alle Menschen gleichberechtigt einzubeziehen.

Wer wirklich mehr demokratische Gerechtigkeit für Kinder und Jugendliche will, sollte diese also direkt stärken, anstatt eine vermeintliche Stärkung von Familien vorzuschieben.

Es gäbe genug zu tun: Mit anständiger Schulpolitik, die allen Kindern einen guten Start ins Leben ermöglicht. Mit dem flächendeckenden Ausbau der Kinderbetreuung, der Runterfahren der wöchentlichen Arbeitszeit auf 30 Stunden und der Abschaffung von Kinderarmut mit der Einführung einer Kindergrundsicherung.


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