Willkommen in der Welt der Armut
Du strengst dich nicht genug an. Du bist faul. Es ist deine Schuld, dass du nicht weißt, wie du die Miete bezahlen sollst. Du bist keine Leistungsträgerin, sondern eine Sozialschmarotzerin.
Ich kenne diese Sätze. Ich kenne die Angst vor der nächsten Stromrechnung ebenso wie die Beschämung der anderen, der Gesellschaft, die Armut als persönliches Versagen sieht. Und ich kenne es, wenn diese Beschämung zur eigenen Scham wird.
Mit jedem Abend kommt die Angst
Armut war jahrelang mein täglicher Begleiter. Bei Monatslöhnen von 1400 Euro in verdammt guten Monaten bis zu knapp 800 Euro in den schlechten - und die Mehrheit der Monate war nicht so gut - ging es nicht mehr ums Leben, sondern ums reine Überleben. Ein Dach über dem Kopf, Essen auf dem Tisch. Viel zu oft blieb der Kühlschrank leer, die Stromrechnung unbezahlt und der Kauf von Winterschuhen verschoben. Mit jedem Abend kommt die Angst, was der nächste Tag bringen wird.
Auch vor dieser weltweiten Krise gab es bei uns zu wenige Jobs für zu viele Menschen, die dringend einen suchten. Fehlende Betreuungsmöglichkeiten, Armut trotz Job, ausbeuterische Verträge mit Hungerlöhnen. Auch vor dieser Krise gab es Firmenpleiten, Jobverluste und Schicksale. Es ist nicht anders. Es sind jetzt mehr. Viel mehr.
Es wird Zeit, dass wir endlich über Armut sprechen, ohne Verurteilung der Betroffenen, ohne Vorurteile, ohne Bewertungen über Schuld/Unschuld und ohne Scham. Diese Kolumne will das versuchen.
Ich heiße Daniela Brodesser, bin 1975 in Linz geboren, habe vier wundervolle Kinder zwischen 11 und 23 und bin verheiratet. Zwei Krankheiten in der Familie haben unser Leben ab 2008 vollends auf den Kopf gestellt. Die Folge war ein Teufelskreis aus Armut, Beschämung, Selbstzweifel und Isolation. 2018 begann ich damit an die Öffentlichkeit zu gehen und über Armut und deren Folgen zu twittern.
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