Wie die Kürzungspolitik Menschen mit Behinderungen besonders hart treffen
Waltraud Wagner-Müller ist Mutter eines volljährigen Sohnes mit kognitiven Einschränkungen. Wenn sie heute, im beginnenden Winter 2025, über seinen Gemütszustand spricht, dann sagt sie: „Er ist aufgebracht und zornig.‟ Dabei steht Michael, so der Name des jungen Mannes, eigentlich mitten im Leben. Er hat etwa einen geringfügigen Arbeitsplatz im Gesundheitsbereich.
Das hat er auch einem kleinen Wiener Projekt zu verdanken. Dieses hilft, dass junge Menschen wie Michael trotz ihrer Einschränkungen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Doch dieses Projekt ist dem Staat nun zu teuer und demnächst Geschichte. Das macht Michael traurig. Gegenüber MOMENT.at sagt er: “Menschen mit Lernschwierigkeiten haben in der Arbeitszeit nicht so viele Chancen. Warum wird bei Leuten eingespart, die eh wenig haben? Bei den Reichen wird nie eingespart. Das ist ein großes Problem.”
Das könnte dir auch interessieren
Derzeit wird in Österreich der Sozialstaat stark abgebaut. Das spüren gerade die Beschäftigten zahlreicher Sozial-, Pflege- und Gesundheitseinrichtungen in jedem österreichischen Bundesland. Und in der Folge natürlich aber auch jene, für die sie ihre Arbeit machen und die den Sozialstaat oft am meisten brauchen.
Darunter sind auch Menschen mit körperlichen und Lernschwierigkeiten, sowie deren Angehörige. Ihnen bläst diesen Winter seitens der Regierenden ein eisiger Wind um die Ohren. Befürchtet werden große Rückschritte bei der Unterstützung einer größtmöglichen Autonomie für Menschen mit Behinderungen. Und ein Rückfall in ein Zeitalter, das von Institutionalisierung, Gängelung und strukturelle Gewalt geprägt ist.
Sparpolitik beendet das Projekt
PILOT ist der Name des Projekts, welches Michael derzeit noch ein selbst bestimmtes Leben ermöglicht. Es wurde vom Verein Integration Wien betrieben. Michaels Mutter lobt es in höchsten Tönen. Es sei für ihren Sohn auf positive Weise lebensverändernd gewesen: „Er ist 2023 dort hingekommen, und hat sehr schnell wahnsinnig viele Fortschritte gemacht. Es gibt eine Person, die für ihn zuständig ist, mit der er einmal die Woche ein Tagesgespräch hat. Die mit ihm seine Stärken erarbeitet, und dann mit ihm nach Praktikumsplätzen sucht.‟
Auch den Angehörigen greife das Projekt unter die Arme. „Es gibt Workshops, Einzelsitzungen und Gespräche mit Eltern. Es wird ganz genau auf die Bedürfnisse der Jugendlichen eingegangen.‟ Nur aufgrund dieses Angebotes, ist Wagner-Müller überzeugt, sei es Michael gelungen, eine geringfügige Anstellung im Gesundheitsbereich zu finden.
Doch zum Jahresende 2025 wird das Projekt abgeschafft. Der Fonds Soziales Wien wird es nicht mehr finanzieren. „Michael kann nicht verstehen, warum gerade bei ihm eingespart werden soll‟, sagt seine Mutter. Beim Fonds Soziales Wien heißt es von Sprecherin Anika Sauer auf Anfrage, der FSW werde weiterhin Menschen mit Behinderung bei der Teilhabe am Arbeitsmarkt unterstützen: “Die Entscheidung, ausgewählte, seitens des FSW freiwillig geförderte Projekte zur Berufsqualifizierung beziehungsweise der Berufsintegration ab 2026 nicht mehr zu fördern, hat der FSW nicht leichtfertig getroffen. Sie basiert auf einer Gegenüberstellung von Erfolgsquoten und Kosten der einzelnen Projekte.” Darüber hinaus werde “der FSW jene Angebote nicht weiter kompensieren, die vorrangig von anderen Systempartnern zu leisten sind.”
Rückschritte bei Inklusion und Integration
Adäquaten Ersatz für das Angebot von PILOT hat Wagner-Müller bislang nicht gefunden. „Ich war bei einem Angebot von Jugend am Werk. Die bieten aber nur einen Bruchteil der Betreuung an. Dort kommt ein Betreuer auf 20 Klient:innen. Da ist gar keine Zeit für individuelle Betreuung.‟
Diese Erfahrung ist symptomatisch für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen in Österreich. Dabei hat die Republik Österreich hat im Jahr 2008 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterschrieben. Ein wichtiger Aspekt dieser Konvention ist die Selbstbestimmung. Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen sollen mit inklusiven Maßnahmen ermächtigt werden, selbstbestimmt in der Mitte der Gesellschaft leben zu können - und eben nicht in spezielle Einrichtungen abgesondert werden. Solche Sonder-Einrichtungen sollen abgebaut werden (“De-Institutionalisierung”).
Die Umsetzung beobachtet ein unabhängige Ausschuss. Der hat Anfang Dezember einen neuen Bericht veröffentlicht. Fazit: „Die Umsetzung von De-Institutionalisierung ist in Österreich nach wie vor wenig vorangeschritten.‟ Und: „Die vorherrschende gesellschaftliche und politische Grundhaltung ist weiterhin, dass Menschen mit Behinderungen (...) in Einrichtungen am besten aufgehoben sind.‟
Zurück in die Einrichtungen?
Viele Menschen und Organisationen befürchten nun, dass die auf Bundes- und Länder-Ebene forcierten Kürzungen diese Tendenzen weiter verschärfen, und bereits erzielte Fortschritte wieder rückgängig machen werden. Eine davon ist Sonja Weis. Sie war bis vor kurzer Zeit eine Vorständin bei Integration Wien. Ihre Tochter hat Lernschwierigkeiten. Eine aus ihrer Sicht mangelnde Transparenz über die Einsparungen trug dazu bei, dass sie ihre Funktion zurücklegte. Auch ihre Tochter profitierte von dem Angebot des PILOT-Projekts. „Für mich war Inklusion immer ein Thema‟, sagt Weis. „Und für mich war immer klar, dass mein Kind in keine Behinderteneinrichtung gehen wird.‟
Über ihre Erfahrungen mit PILOT sagt sie: „Es gab dort so viele Angebote. Es gab Ansprechpersonen für Arbeitgeber:innen. Es gab ein Angebot für jene jungen Erwachsenen, die nicht in den ersten Arbeitsmarkt wollten. Hier konnten sie Alltagsfähigkeiten wie Wegtraining oder den Umgang mit Geld lernen, oder auch politische Bildung erwerben. Wir Eltern wurden auch eingebunden, aber auch gefördert, loszulassen. Ich war sehr froh, dass meine Tochter in dem Projekt war.‟
Einsparungen schaden der Inklusion
Die Einsparungen, sagt S., würden Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige wieder „in das alte System‟ zurückführen. Ein anderes Beispiel seien die Kürzungen bei der Hörbücherei des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Österreich (BSVÖ). Das Projekt ist in Österreich einzigartig. Nun drehen Oberösterreich und Niederösterreich die Förderung ab. Die Schließung steht bevor. „Der Begriff Inklusion wird immer inflationärer verwendet, gleichzeitig gibt es aber nun diese Rückschritte‟, sagt S. „Wenn solche Angebote, oder Angebote wie PILOT eingespart werden, haben viele Menschen keine Wahl als einfach zu Hause zu bleiben, oder in institutionalisierte Tagesstrukturen zu gehen.‟
Ein anderes Beispiel ist die Einrichtung „Hilfe für Angehörige Psychisch Erkrankter (HPE)‟. Das Sozialministerium wird die Angebote der HPE in Wien gar nicht mehr fördern. Die Beratungsstelle der HPE verliere dadurch über die Hälfte ihres Budgets, heißt es in einer Aussendung: „Das bedeutet konkret: jährlich 1.700 Familien von schwer psychisch erkrankten Menschen haben von nun an keine Anlaufstelle mehr, wo sie Unterstützung bei ihrer herausfordernden Betreuungstätigkeit ihres erkrankten Familienmitglieds erhalten.‟ Damit würden Familien sich selbst überlassen, eine wichtige Stütze um Erkrankte bis hin zu einer beruflichen Integration zu stärken, falle weg. Auch hier droht somit ein Rückfall in eine verstärkte Institutionalisierung.
Das Sozialministerium ging auf konkrete Fragen zu HPE in einer Anfrage nicht ein. Es begründet die Kürzungen mit einer “Finanzierungslücke” von 100 Millionen Euro im Ausgleichtstaxfonds. Dieser wird durch Ausgleichszahlungen jener Unternehmen finanziert, die ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen nicht nachkommen. In den vergangenen Jahren seien über diesen Fonds “außerordentliche Ausgaben” getätigt worden, die nicht “nachhaltig gegenfinanziert” worden seien. Deshalb sei eine “verantwortungsvolle Konsolidierung” nötig.
Das Problem mit dem Rückbau
Wenn aber Menschen in institutionalisierte Strukturen zurückgedrängt werden, dann droht ein Anstieg von Entmündigungen, sowie eines Anstiegs von struktureller, körperlicher und psychologischer Gewalt.
Diese Probleme beschäftigen diese Einrichtungen schon seit vielen Jahren. Das weiß auch das Sozialministerium, welches neben Ländern und Gemeinden derzeit die Einsparungen umzusetzen muss. Im Jahr 2019 veröffentlichte es eine Studie zum Thema „Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen‟. Darin berichte sie unter anderem von Problemen wie dem Mangel an Privatsphäre in den Einrichtungen, keine Mitbestimmung bezüglich der Auswahl von Mitbewohner:innen in Wohngemeinschaften, mangelnde Entscheidungsfreiheit bei der Auswahl von Mahlzeiten, wenig Mitspracherechte und nur eingeschränkte Kontakte nach außen.
Hinzu kommt ein sehr hoher Prozentsatz von Gewalterfahrungen, sowohl unter den Menschen in den Einrichtungen selbst, aber auch durch Betreuungspersonen.
Einsparungen gefährden Autonomie und bedrohen Existenzen
Mit großer Sorge betrachtet die Organisation „VertretungsNetz‟ die aktuellen Entwicklungen. Sie ist der größte Erwachsenenschutzverein. Der organisiert die Erwachsenenvertretung für Menschen mit eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit. Unter anderem hilft die Organisation diesen Menschen bei der Regelung finanzieller Geschäfte.
Gleichzeitig setzt sich der vom Justizministerium geförderte Verein für eine Ausweitung der Selbstbestimmung und eine wirkliche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich ein. Denn Erwachsenenvertretung bedeutet immer auch einen Verlust an Autonomie jener Menschen, die eine derartige Vertretung in Anspruch nehmen müssen.
Durch die Einsparungen drohe eine drastische Ausweitung der Erwachsenenvertretung, sagt Geschäftsführerin Gerlinde Heim. Es würden reihenweise psychosoziale Einrichtungen und Projekte zur Arbeitsmarktintegration geschlossen. Diese würden die betroffenen Personen auch unterstützen, indem sie zum Beispiel bei Antragsstellungen behilflich sind.
Rückfall im Erwachsenenschutz
Gleichzeitig würden Fortschritte im Erwachsenenschutzrecht zurückgedreht: „2018 gab es eine große Änderung dahingehend, dass eine Erwachsenenvertretung auf maximal drei Jahre beschränkt wurde, und danach neu überprüft werden musste. Im Juli wurde die Frist auf fünf Jahre ausgedehnt. Außerdem sind Rechtsanwält:innen und Notar:innen wieder verpflichtet worden, Vertretungen zu übernehmen.‟ Diese verfügen aber über keine sozialarbeiterische Kompetenz.
Für die Sache sollte es eigentlich in die andere Richtung laufen. „Eigentlich war angedacht, die Ressourcen der Erwachsenenschutzvereine aufzustocken. Wir bilden unsere Mitarbeiter:innen sehr umfassend aus und arbeiten mit multiprofessionellen Teams. Dies unterscheidet uns von den Rechtsberufen und kommt den vertretenen Personen zugute.‟
Besonders betroffen von den Einsparungen seien Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. „Sie erreichen oft nicht den 50% Behindertenstatus, den es für einen Behindertenpass benötigt.‟
Dies bedeute für die Betroffenen umständliche und langwierige Behördenkontakte. „Mindestsicherung wird ihnen oft nur für wenige Monate gewährt. Das bedeutet, sie müssen jedes Mal wieder umständliche Formulare ausfüllen. Nun fallen aber aufgrund der Einsparungen zahlreiche Unterstützungseinrichtungen weg, die dabei helfen. Somit drohen Versäumnisse bei der Einhaltung von Fristen, und dadurch weitere Gängeleien‟, so Gerlinde Heim.
Sie fürchtet bei Betroffenen ein Anwachsen von Isolation und Existenzängsten. „Bei Menschen ohne Behindertenpass gibt es bei der Wiener Mindestsicherung eine Reduktion der Sonderzahlungen. Die Reparatur von Waschmaschinen wird zum Beispiel nicht mehr finanziert. Mietbeihilfe wird reduziert. Das wird sich bei den Lebenshaltungskosten bemerkbar machen.‟
“Das soziale Gefüge wackelt‟, sagt sie.
Und damit wackelt auch ein wichtiger demokratischer Eckpfeiler der Zweiten Republik.
Das könnte dir auch gefallen
- Solidarisches Wohnprojekt: Keine Miete mehr für „Arschlöcher”
- Ich arbeite bei McDonald’s: Warum ich meinen Job mag
- Höhere Vermögenssteuer in Norwegen, weniger Einnahmen? Ein weit verbreiteter und falscher Mythos
- Hinter den Zahlen: Die Femizide des Jahres 2025
- Von Verkehrsberuhigung zur Vollüberwachung: Das Problem mit der StVO-Novelle
- 1,4 Milliarden Euro für Forschungsprämie: Enorm viel Geld, sehr wenig Kontrolle
- Rassistische Firmenlogos in Österreich: Warum redet keiner mehr über M*****bräu?
- Femizid wird in Italien eigener Strafbestand: Was dafür und dagegen spricht