Rechenfehler mit System
Wem noch nie ein Rechenfehler unterlaufen ist, werfe den ersten Stein. Je nach Ausmaß ärgert man sich dann ein wenig, korrigiert den Fehler und macht weiter.
Ein bisschen anders sieht das jedoch aus, wenn der Rechenfehler 15 Milliarden Euro ausmacht. Und die Konsequenzen ein ganzes Land die nächsten Jahre betreffen.
Genau das ist den größten Wirtschaftsforschungs-Instituten IHS und WIFO dieses Jahr passiert. Anfang des Jahres schlugen die Institute und ihre mächtigen Chefökonomen Holger Bonin und Gabriel Felbermayer Alarm. Die Lohnquote sei in Österreich viel stärker gestiegen als in anderen europäischen Ländern. Diese Quote misst den Anteil der Einkommen der unselbstständig Beschäftigten an der Wirtschaftsleistung des Landes.
Eine Kennzahl, die man in Österreich gerne heranzieht, wenn man über „verantwortungsvolle Lohnpolitik“ spricht. Und kaum war die Zahl in der Welt, wurde sie zum moralischen Leuchtturm: Wer höhere Löhne forderte, galt plötzlich nicht mehr als Verhandler:in, sondern als Risiko für die Stabilität.
Die Lohnquote war zu hoch und die Konsequenzen daraus klar: Österreichs Wirtschaft konnte nur durch das Zurückstecken bei Lohnverhandlungen und dem Verzicht der Arbeitnehmer:innen vor dem wirtschaftlichen Kollaps gerettet werden.
Stattdessen hat die Statistik Austria Ende September neue Zahlen veröffentlicht, die die Wirtschaftsleistung von Österreich signifikant nach oben korrigieren.
Gleichzeitig wurde die Summe der ausgezahlten Löhne nach unten korrigiert. Und so war mit einem Schlag die Grundlage der Mahnungen weg, die noch Wochen zuvor als ökonomische Vernunft verkauft wurden. 15 Milliarden Euro fehlen also tatsächlich auf Arbeitnehmer:innenseite. Aber nicht, weil sie aktiv weggenommen wurden, sondern weil sie statistisch nie existiert haben. Dennoch wurden sie hergenommen, um den geforderten Verzicht begründen zu können.
Die falsche Berechnung hat zu diesem Zeitpunkt ihre Wirkung bereits entfaltet. Die Lohnabschlüsse im öffentlichen Dienst und der Industrie sind schon unterzeichnet. Und Zahlen lassen sich bekanntlich leichter korrigieren als schon unterzeichnete Verträge. Die Botschaft „Die Arbeitnehmer:innen haben genug bekommen, jetzt ist Sparen angesagt“ war bereits in den Köpfen der Menschen verankert. Dass sie auf einem gar nicht mal so kleinen Rechenfehler beruhte, ändert im Nachhinein nichts mehr an den realen Einkommensverlusten.
Interessant ist in diesem Fall also weniger, dass ein Fehler passiert ist, sondern wie er sich ausgewirkt hat. Korrekturen von Statistiken passieren relativ häufig, aber wie sie erzählt werden, folgt oft einem Muster: Erst die alarmistische Zahl, dann der moralische Appell. Und am Schluss, wenn die Verteilungsfragen bereits entschieden sind, kommt dann die Korrektur.
Zahlen sind in politischen Debatten meist keine neutralen Messwerte, sondern Steuerungsinstrumente. Sie definieren, was „leistbar“ ist, was „verantwortbar“ ist und was „überzogen“ ist. Und vor allem: für wen.
Wer in diesen Momenten spricht und gehört wird, ist dabei nicht nebensächlich. Wenn Bonin oder Felbermayr vor steigenden Lohnquoten oder “Lohn-Preisspiralen” warnen, tun sie das nicht in einem Meetingraum im Wirtschaftsinstitut, sondern in der Zeit im Bild auf ORF.
Und ihre Meinungen und Zahlen werden nicht als Vorschlag behandelt, sondern oft als unverrückbare Tatsachen präsentiert. Nach dem Motto: Die Quote steigt, also müssen die Löhne sinken. Ende der Debatte.
Nun kann man das Ganze als Panne verstehen. Oder als Lehrstück darüber, wie in Österreich verhandelt wird. Nämlich nicht zuerst über Einkommen, sondern zuerst über die Zahlen, mit denen Einkommen legitimiert oder delegitimiert werden sollen.
Und wer die Zahlen definieren darf, der bestimmt, was als „ökonomische Vernunft“ gilt. Für den Rest heißt es dann: Verantwortung übernehmen.
Geschehnisse wie dieses zeigen: Bevor Arbeitnehmer:innen überhaupt verhandeln dürfen, wird zuerst festgelegt, in welcher Realität sie verhandeln sollen. Und diese Realität beginnt oft mit einer Zahl. Manchmal sogar mit einer falschen.
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