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Demokratie
Kapitalismus

Quinn Slobodian: „Sie wollen den Staat abschaffen und durch private Dienstleister ersetzen“

Quinn Slobodian Foto: Tony Luong
Marktradikale wollen die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen, sagt der Historiker Quinn Slobodian. Er hat darüber das Buch "Crack-up Capitalism" geschrieben. Es erscheint im November in deutscher Übersetzung ("Kapitalismus ohne Demokratie"). Wie weit sind sie mit diesem Plan und was kann man tun? Im Gespräch mit MOMENT.at teilt Slobodian seine Erkenntnisse.

MOMENT.at: Welche Form des Kapitalismus beschreiben Sie in Ihrem neuen Buch?

Quinn Slobodian: Mit dem „Crack-Up Capitalism“ beschreibe ich zwei Sachen.

Zum einen eine wirtschaftliche Realität. Wirtschaft findet im 21. Jahrhundert stark konzentriert in gewissen Regionen innerhalb von Staaten statt. Solche „Zonen“ haben andere Gesetze als der Rest des Staats, etwa in Bezug auf Steuern und Arbeitsrecht. Als Beispiel können Steueroasen angeführt werden. Das gibt es schon.

Zum anderen beschreibe ich eine radikale, libertäre Ideologie. Die will nicht nur Staaten in Zonen aufbrechen, sondern will einen Schritt weitergehen. Diese Menschen wollen neue Formen der politischen Ordnung schaffen, indem das momentan geltende System zerschlagen wird.
 

MOMENT.at: Warum wollen sie das?

Slobodian: Vertreter:innen dieser Ideologie denken, dass das heutige System der Staaten nicht aufrechterhaltbar ist. Sie denken, dass Staaten seit den 1960er Jahren nicht-ökonomische Faktoren bevorzugen: soziale Gleichheit, ökologische Ziele, die Rücksicht auf Minderheiten. Und das habe in ihren Augen Wachstum, Innovation und Profit verlangsamt. Es ist für sie eine verdammte Situation; ein Kollaps des Systems sei vorprogrammiert.
 

MOMENT.at: Was sind das für Leute?

Slobodian: Das sind sogenannte Anarcho-Kapitalisten. Diese Gruppe glaubt, dass man den Staat nicht nur nutzen kann, um den Markt zu ermächtigen. Stattdessen soll man den Staat ganz abschaffen und ihn durch private Dienstleister ersetzen. Die sollen alles tun, was heutzutage der Staat macht: beispielsweise kümmern sich die dann um Gefängnisse und um das Polizeiwesen. Das ist eine sehr radikale Form des Neoliberalismus, die bisher nicht wirklich untersucht wurde. 
 

Anarcho-Kapitalismus hat auch Unterstützung aus der Tech-Rechten im Silicon Valley.

MOMENT.at: Wo trifft man diese Ideolog:innen an?

Slobodian: In verschiedenen Regionen. Vor kurzem hat jemand den ersten Wahlgang um das Präsidentenamt in Argentinien gewonnen, der sich als Anarcho-Kapitalist bezeichnet. Das gab es bisher noch nicht. Anarcho-Kapitalismus hat auch Unterstützung aus der Tech-Rechten im Silicon Valley. Dort denkt man, dass der Staat ein Hindernis für Effizienz und persönliche Freiheit ist. In der deutschen AfD gibt es einen Anarcho-Kapitalisten, der im Bundestag sitzt. Ich will darauf aufmerksam machen, dass es diese Bewegungen gibt, und dass man sie im Auge behalten sollte.

MOMENT.at: Und wo wird Crack-Up Kapitalismus umgesetzt?

Slobodian: Das passiert ständig. Es wurden mehrere tausend Zonen in der Welt geschaffen. So werden Investor:innen mit angepassten Gesetzen angelockt. Die Konservative Partei in Großbritannien hat beispielsweise zahlreiche Zonen errichtet, die sie „Freeports“ und „Enterprise Zones“ nennt. Das ist einfach Teil des alltäglichen Kapitalismus.

Ein Beispiel, das aus der radikalen Ecke entstehen sollte, ist eine Zusammenarbeit zwischen der autoritären Regierung in Honduras mit ideologisch motivierten Silicon-Valley-Investoren aus Peter Thiels Umfeld. Sie wollten Zonen auf einer Insel an der Nordküste von Honduras errichten. Dort wollten sie eigene Gesetze beschließen, eigene Sicherheitskräfte und eigene Gerichte haben. Das wurde letztendlich durch demokratische Prozesse verhindert.
 

MOMENT.at: Sie schreiben in Ihrem Buch auch über Dubai. Dort gilt es nicht als „gescheitert“, sondern vielen als eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Wie ist das zu bewerten?

Slobodian: Dubai hat zahlreiche Zonen, die an Bedürfnisse von Investor:innen angepasst sind. Es gibt Internetzonen, Finanzzonen, Produktionszonen. Die haben alle eigene Rahmenbedingungen. So hat Dubai es geschafft, beachtlichen Wohlstand aufzubauen. 
 

„Für den Wohlstand Dubais wird also ein hoher Preis bezahlt.“

MOMENT.at: Aber ohne Demokratie.

Slobodian: Das ist die Kehrseite der Medaille: Die Mehrzahl der in Dubai lebenden Personen sind keine Staatsbürger:innen. Sie sind Arbeiter:innen aus anderen Staaten. Diese Menschen könnten von heute auf morgen abgeschoben werden, haben quasi keinen Zugang zu den Vorteilen, die Staatsbürger:innen haben. Sie müssen die Bedingungen der kleinen herrschenden Klasse einfach akzeptieren. Gesetze in Bezug auf Themen wie freie Meinungsäußerung und Geschlechterrollen sind sehr repressiv. Für den Wohlstand Dubais wird also ein hoher Preis bezahlt.
 

MOMENT.at: Alles in allem: welche Auswirkungen hat Crack-Up Kapitalismus momentan?

Slobodian: Schlechte. Wie es jetzt ist, verunmöglicht er Verteilungsgerechtigkeit und die Durchsetzung kollektiv getroffener Entscheidungen. Es geht darum, die Früchte von Arbeit in den Händen weniger Personen zu konzentrieren. Diese haben dann die Möglichkeit, in ihre eigenen Welten zu fliehen und schwierigen Problemen kollektiven Wohlergehens zu entkommen.
 

MOMENT.at: Und wo geht die Reise im Umgang mit Zonen hin?

Slobodian: Ich glaube nicht, dass wir uns von Zonen gänzlich abwenden werden. Die Frage ist dann: Was für Zonen wollen wir? Ein Beispiel: Im Inflation Reduction Act der USA ist ein großes Thema, wo das Investment für den Bau von Elektroautos und Batterien hingeht. Geht es in Regionen, wo das Leben von Arbeiter:innen besser sein wird als vor dem Investment? Wird die Bildung von Gewerkschaften ermöglicht? Wird es Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung geben? Oder bauen wir Zonen, die das Leben von Arbeiter:innen schlechter machen?
 

MOMENT.at: Wie kann man Zonen positiv gestalten?

Slobodian: Zum einen einfach durch langweilige, demokratische Politik. Koalitionen innerhalb von Parlamenten können gewisse Entwicklungen positiv beeinflussen. Auch gesellschaftliche Bewegungen können eine andere Zukunft bringen. Ich denke da an den momentanen Streik in der Autoindustrie in den USA. Ich glaube, viele Politiker:innen können durch gesellschaftliche Bewegungen oder auch durch Intellektuelle beeinflusst werden. Sie könnten Konzepte entwickeln und Druck auf politische Entscheidungsträger machen. 
 

Quinn Slobodian (45) ist Historiker. Der Kanadier forscht und lehrt zur Zeitgeschichte des Kapitalismus und der Globalisierung am US-amerikanischen Wellesley College.

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