Annika Brockschmidt über die USA: “Republikaner haben sämtliche Macht in die Hände der Extremsten gelegt”
MOMENT.at: Im Titel deines Buches bezeichnest du christliche Nationalist:innen in den USA als “Gotteskrieger”. Gerade nach der Aufhebung des grundsätzlichen Rechtes auf Abtreibung gab es viele Memes, in denen Republikaner:innen mit den Taliban vergleichen wurden. Kann man diesen Vergleich ziehen?
Annika Brockschmidt: Erstmal zu dem Titel: Mit dem bin ich, wie man sich vorstellen kann, oft angeeckt. Bei uns ist die Assoziation schon automatisch: Gotteskrieger kennt man normalerweise im Zusammenhang mit Organisationen wie dem IS. Aber tatsächlich ist das eine Eigenbezeichnung der Religiösen Rechten. Die findet man in ganz vielen Predigten und Texten. Diese Kriegsrhetorik ist im Kern ihres Denkens drin.
Aber ich finde nicht, dass man den Vergleich mit den Taliban ziehen muss. Denn der impliziert, dass man zum Islam blicken muss, um etwas Vergleichbares zu finden. Aber um “Gotteskrieger” zu finden, kann man auch auf eine ganz lange christliche Tradition schauen – sowohl in Europa, als auch in den USA.
MOMENT.at: In Missouri kam es gerade zu einer bezeichnenden Episode: Das Repräsentantenhaus hat beschlossen, dass Gesetzgeberinnen künftig ihre Arme bedecken müssen. Darüber könnte man sich natürlich lustig machen. Aber ist das nicht Ausdruck einer größeren Entwicklung?
Brockschmidt: Es ist Zeichen einer Ideologie, der sich ein großer Teil dieser Partei verschrieben hat. Man hat diesen Teil lange Zeit als ein paar religiöse, fundamentalistische “Spinner” abgetan.
Nur haben wir in den letzten Jahrzehnten gesehen, dass diese religiöse Rechte – nicht erst seit Trump – einen immer größeren Einfluss auf die Partei hat. Das hängt damit zusammen, dass die Partei zunehmend von der politischen Infrastruktur abhängig ist, die diese religiöse Rechte aufgebaut hat.
MOMENT.at: Wie konnte sie so viel Macht in der republikanischen Partei und im Land erlangen?
Brockschmidt: In der heutigen organisierten Form entstand die Strömung im Nachklang auf die Niederlage von Barry Goldwater. Er war 1964 der republikanische Präsidentschaftskandidat. Er hat sich im Grunde als Extremist geoutet und sich nicht von bestimmten rechtsextremen und verschwörungsgläubigen Gruppierungen distanziert. Und ist damit krachend gescheitert.
Viele Architekten der heutigen religiösen Rechten waren damals in seinem Team. Sie haben die Niederlage als entscheidende politische Erfahrung verbucht. Und haben den Schluss gezogen, dass sie es der Gegenseite nachmachen müssen. Sie haben Organisationen gegründet, um etwa Mitglieder zu aktivieren und Nachwuchs auszubilden.
Die Ironie der Geschichte: Die religiöse Rechte ist der Gegenseite heute, was das betrifft, Jahrzehnte voraus.
MOMENT.at: Wie schafft sie sich damit Macht?
Brockschmidt: Einerseits mit Gründungen von politischen Organisationen, die miteinander vernetzt sind. Damit können sie Aktivisten auf ganz bestimmte Themen ansetzen. Die Leute lernen in den Organisationen, wie man ein in sich geschlossenes Messaging 24 Stunden am Tag raushaut. Und das wird dann über die verbundenen Medienimperien gesendet.
Selbst wenn man gar nicht so ideologisch darin verhaftet ist: Viele wachsen in einer Umgebung auf, wo etwa Fox News ständig im Hintergrund läuft. Dann hört man immer und immer wieder bestimmte Narrative und Schlagwörter. Die setzen sich fest und lassen den Eindruck erscheinen, dass Amerika am Abgrund steht und existentiell bedroht ist. Demokraten werden nicht als politischer Gegner gesehen sondern als zutiefst antiamerikanische Kraft.
Andererseits bringen sie ihre Anhänger auch auf Basisränge von anderen Organisationen. Ein gutes Beispiel ist die National Rifle Association. Die NRA war früher eigentlich ein liberaler Sportschützenverein. Bei einem Meeting sind dann hunderte konservative Aktivisten erschienen und haben die gesamte liberale Führungsriege abgewählt.
Das ist eine Strategie, die man durch die Jahrzehnte beobachten kann. Und das haben sie auch innerhalb der Republikanischen Partei so gemacht. Oft sind das kleine Ämter, für die nicht so viele Leute kandidieren. Das wird oft zu einem Sprungbrett für höhere politische Ämter. Man hat also eine Basis, die sich jahrzehntelang radikalisiert hat. Und man hat eine Parteielite, die das unterschätzt, aber auch genutzt hat. Weil sie sich davon kurzfristigen politischen Gewinn versprochen hat. Gleichzeitig hat sie nicht erkannt, wie sehr das aus dem Ruder läuft und dass man die Entwicklung irgendwann nicht mehr einfangen kann.
MOMENT.at: Es ist also eine jahrzehntelange Entwicklung – aber warum ist das jetzt in den letzten Jahren so aufgebrochen?
Brockschmidt: Man darf nicht den Fehler machen zu glauben, dass es erst mit Trump angefangen hat. Trump war mit Sicherheit nochmal ein Radikalisierungsmoment, das würde ich gar nicht abstreiten.
Aber man sieht solche Momente ja auch schon vor Trump, etwa mit der Tea Party. Auch das war eine Bewegung, die davon ausging, dass Amerika von weißen Christen für weiße Christen gegründet wurde. Sie haben gemerkt, dass die Hierarchien, die sie verteidigt haben und für selbstverständlich empfunden haben, immer mehr infrage gestellt wurden. Etwa mit der Wahl des ersten Schwarzen Präsidenten.
Wir haben jetzt eine Partei, die willentlich sämtliche Macht in die Hände der Extremsten der Extremen gegeben hat. Es gibt ja in den Medien die – zuletzt immer verzweifeltere – Suche nach dem “vernünftigen Republikaner”. Aber das ist eine Partei, die bereits radikal ist. Und sie wird von extremen Mitgliedern immer mehr getrieben.
Die USA wurde von weißen Christen für weiße Christen gegründet. Das ist der gemeinsame Nenner der unterschiedlichen Glaubensrichtungen und der Regenschirm des christlichen Nationalismus.
MOMENT.at: Man verbindet die USA ja generell mit viel Religiosität. Welche Art von Religion meinst du genau, wenn du von religiösen Nationalist:innen redest?
Brockschmidt: Wenn ich von der religiösen Rechten rede, meine ich nicht nur eine bestimmte Glaubensrichtung. Auch wenn weiße Evangelikale überdurchschnittlich großen Einfluss haben: Der Grund, warum diese Bewegung so massentauglich wurde, ist, dass theologische Auseinandersetzungen beiseitegelegt wurden. Es haben sich Pfingstkirchen, Katholiken, Baptisten, Denominationslose, teilweise Mormonen und vereinzelt orthodoxe Juden zusammengetan. Das ist neu in der amerikanischen Geschichte.
MOMENT.at: Wie hat man das geschafft?
Brockschmidt: Ausschlaggebend für die politische Aktivierung der Weißen Evangelikalen war die Aufhebung der Segregation von Schulen. Das wurde als Angriff auf die Identität Amerikas als christliches Land gesehen. Das geht zurück auf den Gründungsmythos, auf dem auch die Legitimation dieser Bewegung aufbaut: Die USA wurde von weißen Christen für weiße Christen gegründet. Das ist der gemeinsame Nenner der unterschiedlichen Glaubensrichtungen und der Regenschirm des christlichen Nationalismus.
Alle anderen Menschen sind keine “richtigen” Amerikaner. Wenn man etwa deren Wahlrecht beschränkt, ist das kein Angriff auf die Freiheit, weil die gehören ja ohnehin nicht dazu.
MOMENT.at: “Race” ist also eine Schlüsselrolle für christliche Nationalist:innen?
Brockschmidt: Auf jeden Fall. Das ist in der amerikanischen Religionslandschaft ein erheblicher Unterschied zu Europa. Ich werde oft gefragt, warum ich immer wieder von weißem christlichen Nationalismus und nicht einfach nur von christlichem Nationalismus spreche. Das liegt daran, dass damit bestimmte politische und soziale Positionen verbunden sind. Zum Beispiel was Einwanderung, den Einsatz von Polizeigewalt oder Sozialhilfe angeht.
Das Weiß darin ist ein zentrales Element. Es steht für den Erhalt bestehender patriarchaler Strukturen und ganz bestimmter Hierarchien, die als gottgegeben gesehen werden. Man kann das zurückverfolgen bis zur die Theologie der Sklavenhalter. Die haben biblisch begründet, warum es erlaubt sei, Sklaven zu halten.
Ich bekomme oft zu hören, dass es ja auch Schwarze Menschen gibt, die diesen weißen christlichen Nationalismus aktiv mittragen. Genauso wie es einige Frauen gibt, die Anti-Abtreibungsaktivistinnen sind. Das ist natürlich praktisch, man kann mit dem Finger zeigen und sagen: “Wir können nicht sexistisch sein, wir haben doch Frauen nominiert. Und wir können nicht rassistisch sein, da spricht ja eine Schwarze Person bei uns.”
Aber diese Whiteness ist viel mehr als nur eine Hautfarbe. Es ist ein Versprechen von Macht. Und innerhalb dieser Whiteness ist in begrenzter Form auch Platz für Schwarze Menschen und für Frauen – wenn sie sich dem ganzen Gefüge unterordnen und es von innen stützen. Für sie ist das eine Möglichkeit, innerhalb dieser Struktur ein Stückchen von der Macht und von politischem Wirken für sich zu sichern. So erklärt es die Religionswissenschaftlerin Anthea Butler.
MOMENT.at: Das erinnert alles stark an “Make America Great Again”, Trumps Slogan. Wir werden die alte Hierarchie wieder aufleben lassen und zu dieser Zeit zurückkehren.
Brockschmidt: Es ist die Erzählung vom Goldenen Zeitalter, in dem alles gut war. Diesen Zustand gab es nicht. Dann wird die Behauptung aufgestellt, dass sich die Verfassung von der Bibel ableitet und dass Gott in die Verfassung reingeschrieben wurde. Das ist historisch natürlich alles Quatsch.
Aber dadurch kreieren sie eine glorreiche Vergangenheit. Und stellen dem gegenüber, wie das Land den Bach runtergeht, weil sich Amerika von Gott abgewandt hat. Sie können uns also nur retten, wenn sie Gott wieder zurückholen: in die Politik, in unsere Gerichte, in die Schulen. Und da sind wir dann bei so ganz klassischen Erklärungsmustern, zum Beispiel auch für School Shootings. Die liegen ihrer Ansicht nach nicht an den Waffen. Es liegt daran, dass in der Schule nicht mehr gebetet wird.
MOMENT.at: Ist das die Vision der christlichen Nationalist:innen oder steckt noch mehr dahinter?
Brockschmidt: Die Vision hinter all dem ist ein Amerika, wo Gott wieder im Zentrum steht. Ein gläubiges Amerika, ein rechtschaffenes Amerika, wo es so “sündhafte” Dinge wie die Existenz von LGBTIQ-Menschen oder Linken nicht mehr gibt.
Die Leute kennen dann ihren Platz. Wenn sie sich dem nicht unterordnen, wird eben Gewalt angewendet. Die Soziologen Gorski und Perry nennen es die “Dreifaltigkeit des weißen, christlichen Nationalismus”: Freiheit – für die Gruppe, die zu uns gehört. Ordnung – unsere Ordnung für die anderen. Und als drittes Gewalt, wenn sich andere dieser Ordnung nicht beugen.
Weiße, rechte Christen geben den Ton an und der Rest hat sich unterzuordnen. Das geht natürlich einher mit bestimmten Ansichten.
MOMENT.at: Christlicher Nationalismus ist in den USA extrem gut organisiert. Hat das auch Einfluss auf ähnliche Kräfte in Europa? Gibt es hier Verknüpfungen?
Brockschmidt: Die gibt es auf jeden Fall. Man darf nicht vergessen, dass das ein globales Unterfangen ist – auch wenn es paradox klingt, schließlich sind die einzelnen Projekte wahnsinnig nationalistisch. Aber sie profitieren stark vom gegenseitigen Austausch.
Ein Beispiel für die globale Verknüpfung ist der “World Congress of Families”. Der wurde von zwei Russen und einem Amerikaner gegründet, um dem drohenden “demografischen Winter” – sie befürchten, dass zu wenige weiße Babys geboren werden – etwas entgegenzusetzen.
Eins zu eins kann man das aber nicht vergleichen. Zum einen haben wir andere politische Systeme, zum anderen ist die politische Infrastruktur bei weitem nicht auf demselben Level wie in den USA. Es ist trotzdem wichtig zu betonen, dass es keine einseitige Bewegung ist. Es schwappen auch Inhalte in die USA. Viktor Orbán ist etwa ein großes Vorbild der amerikanischen Rechten. Konservative amerikanische Intellektuelle sehen in Ungarn und teils Russland eine Utopie – ob ihre Vorstellung auch tatsächlich etwas mit der Realität zu tun hat, ist etwas anderes. Aber Sie sehen in Ungarn eine Variante, wie man einen autoritären Staat unter einem weißen christlichen Nationalismus implementieren kann.
MOMENT.at: Ich habe im Sommer den Philosophen Jason Stanley über den Zustand der Demokratie in den USA interviewt. Seine Prognose war ziemlich niederschmetternd. Siehst du die USA auch in der letzten Phase ihrer Demokratie?
Brockschmidt: Ja.
Ich versuche es positiv zu formulieren: Wir sollten nicht davon ausgehen, dass die amerikanische Demokratie automatisch ihrem Ende entgegengeht. Auf kurze Sicht sieht es aber nicht gut aus.
Andererseits: Historisch betrachtet ist es keine stabile politische Situation, wenn eine Minderheit die Mehrheit unterdrückt. Das ist ein Spannungsfeld, das durchaus ein paar Jahrzehnte anhalten kann, das sich aber irgendwann zwangsweise in einem Konflikt entlädt. Es hat ja durchaus einen Grund, warum in den letzten Jahrzehnten immer wieder Menschen, die zum Beispiel zu Bürgerkriegen forschen, Alarm schlagen. Das heißt nicht, dass Nord- und Südstaatenarmee aufeinandertreffen werden, wie man sich das so bürgerkriegsmäßig in den USA vorstellt. Das wird natürlich nicht passieren.
Aber einige Punkte auf der Checkliste sind bereits abgehakt. Vor einigen Tagen wurde ein ehemaliger republikanischer Kandidat für das Repräsentantenhaus verhaftet, weil er Schüsse auf die Häuser seiner politischen Gegner angeordnet hat. Und das nach einem Midterm-Wahlkampf, wo politische Gewalt zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte der USA so präsent war.
Marjorie Taylor Greene (extrem rechte Republikanerin im Repräsentantenhaus, Anm.) hat vor ein paar Monaten erzählt, dass gewählte Demokraten Todestrupps von Tür zu Tür schicken, die Konservative umbringen würden. Wenn man als Wähler davon ausgeht, dass das stimmt, was führende Republikaner erzählen, dass Demokraten alle Kinder missbrauchen, Kinder sexualisieren, das Land in den Abgrund stürzen und Todestrupps losschicken, um mich und meine Familie umzubringen. Wenn man das wirklich glaubt, dann ist das ja nicht überraschend, dass Leute dann zur Waffe greifen. Insofern sind das keine so guten Aussichten.