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Demokratie

Chile protestiert für eine neue Verfassung und lehnt sie dann ab: Was ist hier passiert?

Chile hätte mit einer neuen Verfassung die Chance auf einen gefestigten Sozialstaat mit allen dazugehörigen Leistungen plus mehr Umweltschutz und Rechte für Frauen und Minderheiten gehabt – doch die Bevölkerung lehnte bei einem Referendum eindeutig ab. Aber warum eigentlich?

Die neue Verfassung versprach ein „neues Chile“. Sie sollte den Sozialstaat, Frauenrechte, Umweltschutz und indigene Völker stärken, statt wie bisher private Unternehmen.

62% der chilenischen Bevölkerung sprachen sich aber gegen das neue Grundgesetz aus. Und es waren immerhin 13 der 15 Millionen Wahlberechtigten an der Urne. Nur 38% der Chilen:innen waren für die neue Verfassung, die die alte aus Zeiten der Pinochet-Militärdiktatur abgelöst und das südamerikanische Land grundlegend verändert hätte. Noch vor zwei Jahren hätten aber 80 Prozent der Wähler:innen für eine neue Verfassung gestimmt – was ist passiert?

Warum überhaupt eine neue Verfassung?

Chile war vor 32 Jahren unter General Augusto Pinochet noch eine Militärdiktatur. Das Land hat sich wirtschaftlich zwar relativ gut entwickelt und hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika. Dennoch ist Chile weiterhin von Armut und sozialer Ungerechtigkeit geprägt.

2019 begann eine Reihe an Protesten gegen steigende Preise sowie die soziale Ungleichheit im Land – weite Teile des Gesundheits-, Pensions- und Bildungswesens sind privatisiert, die alte Verfassung lässt der Privatwirtschaft in vielen Bereichen freie Hand, was eine soziale Kluft aufreißt. Demonstrant:innen forderten mehr Gerechtigkeit und den Rücktritt des damaligen Präsidenten Sebastián Piñera.

Im Dezember 2021 wurde auch aus dieser Bewegung heraus der damals 35-jährige Gabriel Boric zum Präsidenten gewählt. Er gilt als linker Hoffnungsträger und versprach Besserungen im Gesundheits- und Bildungsbereich sowie die Rechte von Minderheiten zu stärken. Ein Jahr lang wurde mit verschiedenen Gruppen an einem Entwurf für eine neue Verfassung gefeilt.

Was wäre in der neuen Verfassung gestanden?

Der Vorschlag zur neuen Verfassung konzentrierte sich auf die Stärkung von Sozialstaat, Frauenrechten, Umweltschutz und indigenen Völker. Der Staat solle das Wohlergehen der Menschen aktiv in die Hand nehmen, statt das privaten Unternehmen zu überlassen. Einige konkrete Punkte:

Warum hat die Mehrheit dagegen gestimmt?

Gesundheit und Bildung ja, aber bei manchem scheiden sich die Geister: die neuen Rechte für Ureinwohner sowie das Thema Abtreibung sind zwei Themen, die in der breiteren Bevölkerung keinen Anklang gefunden haben.

Die Präsidentin der verfassungsgebenden Versammlung, Elisa Loncón, ist eine Vertreterin der indigenen Bevölkerung, Sie hoffte, Chile würde durch die neue Verfassung in „einen Staat vieler Nationen, ein interkulturelles Chile“ verwandelt – ein so neues Chile war der breiten Bevölkerung dann aber offenbar doch zu neu.

„Wir wollen eine neue Verfassung, aber nicht diese hier“, sagte Ximena Rincon, Senatorin der konservativen christlich-demokratischen Partei Chiles. Die gewählten Volksvertreter:innen, die den Entwurf ausarbeiteten, kamen mehrheitlich aus dem linken und progressiven Lager – rechte und konservative Kandidat:innen hatten wenig zu melden. Die rechte Opposition hat deshalb auf massive Gegenkampagnen gesetzt, mitunter geprägt von Fake-News und Hetze. Wie man sieht erfolgreich.

Welche Auswirkungen hat das?

Die Verfassungsänderung in Chile war eines der spannendsten demokratischen Experimente weltweit. Sie hätte ein Symbol für Toleranz, Gerechtigkeit und Umweltschutz und gegen neoliberale Wirtschaftssysteme sein sollen. Die Ablehnung ist ein klarer Dämpfer – auch für die weltweiten Beobachter:innen, die Hoffnungen in diese Entwicklung gesetzt haben.

Der Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit und einer neuen Verfassung bleibt allerdings weiterhin bestehen – wenn auch nicht in der Form, in der sie hier vorgeschlagen wurde. Somit ist bei der chilenischen Verfassung noch lange nicht das letzte Wort gefallen. Neue Verhandlungen gehen ab Montag los.

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