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Arbeitswelt

Eine Kurdin erzählt: "Vorgestern waren alle noch am Leben"

Was ich wirklich denke Cover zeigt den Schriftzug "Was ich wirklich denke" und Gekritzel im Hintergrund.
Alexandra fordert mehr Entscheidungskompetenz für Pflegekräfte: "Momentan können wir nicht als Gruppe wahrgenommen werden, die ihre eigenen Entscheidungen trifft."
Roj (22) ist aus den kurdischen Gebieten in Syrien nach Österreich geflohen. Seit dem Einmarsch der Türkei hat sie wieder mehr Angst um FreundInnen und Verwandte, die noch dort sind.

Angst. Als ich vom türkischen Angriff auf die kurdischen Gebiete in Syrien in den Nachrichten gelesen habe, war mein erster Gedanke: Angst. Meine Großmutter lebt in Kobane, auch viele meiner Freunde und Bekannten. Vorgestern waren alle noch am Leben. Aber manchmal gibt es keine Verbindung. Vergangene Woche wusste ich drei Tage lang nicht, wie es allen geht. 

Als sich herumgesprochen hatte, dass die USA abziehen würden, ist in den kurdischen Gebieten echte Panik ausgebrochen. Die Erinnerung an die Kämpfe gegen des IS sind noch frisch. So viele Menschen sind gestorben. Jeder kennt jemanden, der gefallen ist oder ermordet wurde. Aus Angst haben viele in Kobane alles stehen und liegen gelassen und sind geflohen, die meisten ins Landesinnere.

Wir hatten wirklich gedacht, die USA würde ihr Wort halten. Wir haben Seite an Seite gekämpft. Im Kampf gegen den IS wurde die kurdische Armee als Held gefeiert. Und jetzt ist das alles einfach nichts mehr wert? Ich kann verstehen, dass auch Amerikaner einmal sagen: „Ich will nicht mehr, dieser Krieg soll enden.“ Aber dann darf ich doch meine Verbündeten, die Menschen um mich herum, nicht in Gefahr bringen, weil ich nur mehr auf mich schaue.

Das ist die große Politik. Aber die Leute, die jetzt sterben, sind nur normale Leute, die mit Weltpolitik nichts zu haben.

Ich bin wütend auf die EU, weil sie Angst hat, dass die Türkei die Flüchtlinge nach Europa lässt. Die westlichen Politiker sagen, ich bin gegen Erdoğan in dieser Situation, aber sie tun nichts. Europa hat Angst vor Erdoğan, Erdoğan hat Angst vor Putin, und Putin unterstützt Assad. Das ist die große Politik. Aber die Leute, die jetzt sterben, sind nur normale Leute, die mit Weltpolitik nichts zu tun haben.

Ich musste schon oft fliehen. Ich bin in Aleppo aufgewachsen. Von dort flohen wir nach Kobane. Mein Vater hat gesagt, in Syrien ist es nicht sicher, also sind wir von dort in die Türkei geflohen. Dort hausen Flüchtlinge in Zelten, man hat keine Chance auf ein Leben. Meine Freunde, die noch dort sind, löschen alles von ihrem Handy löschen bevor sie das Haus verlassen. Sie haben Angst, dass regierungskritische Nachrichten auf ihrem Handy gefunden werden. Wir leben im 21. Jahrhundert und man hat das Recht seine Meinung zu sagen. Aber nicht überall.

2015 bin ich nach Österreich gekommen. Wir sind vier Geschwister. Zwei gehen noch zur Schule. Meine jüngere Schwester macht gerade die Studienberechtigungsprüfung. Ich will Medizin studieren, warte gerade auf die Aufnahmeprüfung und arbeite im Büro eines Projekts, das Flüchtlingen bei der Joborientierung hilft.  

Bei uns zuhause laufen seit zwei Wochen nonstop nur Nachrichten.

Ich sehe meinen Vater, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hat und eine Firma aufgebaut hat, und jetzt hat er nichts. Jetzt ist er in einem Land, dessen Sprache er nicht gut kann. Wenn er auf der Straße allein ist, hat er dieses Unsicherheitsgefühl, die Angst, dass er irgendwas nicht versteht oder etwas passiert und er sich keine Hilfe holen kann. Seine Gedanken sind zuhause, bei seiner Familie. Bei uns zuhause laufen seit zwei Wochen nonstop nur Nachrichten. Vorher war es ein bisschen besser, er war ruhiger.

Wenn der Krieg vorbei ist, werden sehr viele wieder nach Syrien zurückgehen.  Aber der Krieg kann jetzt noch 20 Jahre dauern. Es gibt ein paar, die sagen, ich habe hier einen Weg gefunden. Aber viele werden zurückgehen, weil sie nicht das Gefühl haben nicht hierher zu gehören.

Was ich mir wirklich wünsche, ist Frieden, endlich Ruhe. Aber selbst wenn man die Flucht geschafft hat, wird man jeden Tag an den Krieg erinnert. Das ist auf Dauer kaum auszuhalten. Ein Unsicherheitsgefühl bleibt für immer.

 

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