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Evgeny Morozov: "Warum sollten Firmen unsere Daten überhaupt besitzen?"

Autor und Tech-Skeptiker Evgeny Morozov im Interivew mit Moment.

Evgeny Morozov ist laut dem Magazin Politico einer der einflussreichsten Menschen in Europa. Und er ist nicht besonders glücklich darüber, wie Europa mit der Digitalisierung oder der Besteuerung von Internetkonzernen umgeht. Bei der Suche nach Antworten darauf sei die typische Kleinstaaterei hoffnungslos, die europäische Ebene aber zu zerstritten. Und progressive Kräfte hätten das Thema bisher sowieso verschlafen. Das erzählt er im Gespräch mit Tom Schaffer.

Der in Weißrussland geborene, europäische Publizist gehört zu den streitbarsten Denkern über das Internet und die Digitalisierung. In Kolumnen für große Magazine und Zeitungen sowie seinen Büchern betrachtet Morozov viele Entwicklungen mit schonungsloser Skepsis und Kritik, die vor allem im Silicon Valley mit großer Technologie-Gläubigkeit bejubelt werden. Kürzlich war er zu Gast in Wien bei der Stadttagung “Wien wächst” (hier seine Keynote).

Moment: Werden Smart Cities unser Leben verbessern?
Evgeny Morozov: Manche werden unser Leben verbessern. Manche definitiv nicht. Die dominante Vision für Smart Cities ist im Moment die von großen Konzernen. Menschen, die Sicherheit wollen, stabile Jobs haben, die nichts verstecken wollen, die profitieren von einem großen Anstieg von Kontroll-Infrastruktur und von effizienten aber teuren Diensten, die vor allem von prekärer Arbeit erhalten werden. Es gibt aber auch eine Menge Verlierer. Es ist eben ein Ausdruck davon, wie ungleich Macht im gegenwärtigen Kapitalismus verteilt ist.

Was meinst du damit?
Städte waren schon immer intelligent, wurden schon immer von Technologie und Daten verwaltet. Eine Stadt kann ohne nicht funktionieren. Aber im Moment dreht sich alles um die Idee vom Verbraucher als König. Das ist die vorherrschende Annahme der neoliberalen Strömung im Kapitalismus. Wir interessieren uns nicht für die HerstellerInnen, nicht für die Politik, sondern nur für die Bedürfnisse der KonsumentInnen. Die sollen immer schneller und billiger befriedigt werden können. Wichtig ist nur, dass du das Zeug, das du willst, billiger kriegst. Das leitet alle wirtschaftlichen Reformen im Neoliberalismus

Wie könnte eine progressive Vision einer Digitalisierung aussehen, die nicht nur der Mittel- und vor allem Oberschicht dient?
Die digitale Wirtschaft ist eine Erweiterung dieser neoliberalen Logik: Es kann, wird und soll für alles eine App geben. Bedürfnisse werden privat befriedigt. Jede progressive Digitalisierung muss davon abweichen, dass der Verbraucher auch König ist. Natürlich gibt es eine Vielfalt der Bedürfnisse, Geschmäcker und Vorstellungen. Aber man sollte nicht annehmen, dass der Markt sie alle befriedigen kann. 
 

Was wäre da ein Beispiel?
In der Stadt gab es lange Zeit eine Lösung, um Bücher zu lesen. Man musste nicht in einen Buchshop gehen oder zu Amazon. Man ging in die öffentliche Bücherei. Es gab ein kollektives Bedürfnis und es wurde eine Institution geschaffen, die dieses Bedürfnis erfüllt. Eine Smart City, die uns mehr Büchereien und weniger Amazons gibt, wäre ein guter Start. In einer Welt, in der Amazon die Show leitet, wird die Idee einer Bibliothek natürlich niemals aufkommen. Das ist schlecht fürs Geschäft. Ich fürchte, dass diese Haltung so dominiert, dass Ideen nicht aufkommen, die das Problem radikaler lösen würden, indem sie den Konsum komplett umgehen. 

Progressive Kräfte haben die Digitalisierung lange übersehen

Haben wir die politischen Grundlagen, um zu dieser anderen Vision zu kommen?
Nein. Progressive Kräfte haben die Digitalisierung lange übersehen oder sie vor allem im Rahmen der Arbeitswelt bedacht. Sehr viel von links-fortschrittlichem Denken wurde von Gewerkschaften beeinflusst. Und so sehr ich Gewerkschaften auch respektiere, sie denken immer bezogen auf das Thema Arbeit. Die breitere Transformation des Staates, der Bürokratien und von wirtschaftlichen Prozessen übersehen sie oft. Und all das ist sehr stark von der Digitalisierung betroffen und abhängig.  Progressive haben im Moment keine Ahnung, was sie wollen. Sie wollen erhalten, was man vor dreißig Jahren hatte. Wenn man es nicht schafft zu erklären, worum es beim Fortschritt geht, wird man nie eine Vision der Digitalisierung haben.

Große Konzerne haben einen Vorsprung, die technische Kompetenz und die Ressourcen um Smart Cities und Strategien dafür zu entwickeln. Wie können Staaten oder gar auch nur Städte sich davon unabhängig machen und konkurrieren?
Indem sie die Mentalität und den Kurs der Neoliberalen hinter sich lassen, die sie in den letzten dreißig Jahren hatten. Sie müssen die Industriepolitik wiederentdecken. 

Was heißt das?
Unsere PolitikerInnen und progressive Kräfte werden es schwer haben, ihre Existenz zu rechtfertigen, wenn immer mehr unseres Lebens von Google und Amazon beeinflusst werden. Auf seine Weise funktioniert das dann natürlich so viel besser. Industriepolitik heißt, dass man strategische Eingriffe in seine Wirtschaft vornimmt. Man muss entscheiden, welche Industrien und Infrastruktur man für wichtig hält für die nationale wirtschaftliche und soziale Entwicklung und wer was besitzen kann. Wenn man das nicht tut, warum dann nicht gleich alles an Amazon auslagern? 

Sollte man öffentliche Industrie-Cluster für IT gründen?
Teilweise. Aber ich will auch nicht einfach nur mehr Startups. Darüber labern zwar alle Regierungen, aber wen kümmert es schon, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fünf Milliarden Euro in Startups stecken will? Solche Summen schlucken große Banken beim Investieren zum Mittagessen. Das führt nirgends hin. Man kann auf dieser Ebene vielleicht gar nicht viel tun. 

Wo dann?
Wenn man es in Europa nicht auf der europäischen Ebene angeht, kann man das vergessen, dann ist es hoffnungslos. Man braucht dafür viel mehr Geld. Aber die europäische Regierungen haben ihre Ausgaben selbst beschränkt. Deshalb kann dieses Geld nicht aufbringen. Man müsste dazu auch einmal sagen, wofür man es braucht. Weil man zum Beispiel amerikanischen und chinesischen Unternehmen nicht traut. Aber wenn man das sagt, löst das ebenfalls teure, weltpolitische Konsequenzen aus. 

Kurzfristig gibt es keine Hoffnung.

Wo bleibt da die Hoffnung?
Kurzfristig gibt es keine Hoffnung. Langfristig muss es ein neues, progressives Projekt geben, das sich rund um die Digitalisierung neu erfindet. Es braucht eine Erzählung, die sich nicht nur darum dreht, die Vergangenheit und den Sozialstaat zu verteidigen. Die Digitalisierung zeigt in eine sehr interessante Richtung mit mehr Autonomie für BürgerInnen und weniger Zentralisierung. Sie kann vieles Herbeiführen, was die Linke in den 1960ern und 70ern erreichen wollte. Man kann die Dinge viel horizontaler organisieren. Die Digitalisierung erlaubt es, Institutionen neu zu denken, die auf Solidarität basieren.

Progressive müssen die grundsätzliche Denkweise ändern?
Sobald man weiß, wofür man ist – mehr Gleichheit, mehr Autonomie, was auch immer – wenn man eine Utopie hat, ist Digitalisierung der einzige Weg dorthin. Der Nachfolger zum Wohlfahrtsprojekt muss höchst technologisch sein. Und er muss Menschen nicht nur davon überzeugen, dass Neoliberalismus ein Schwindel ist, sondern dass diese progressive Vision für die Zukunft besser ist.

Was sonst?
Die Zukunft des neoliberalen Projekts scheint mehr oder weniger klar zu sein. Es ist eine Allianz zwischen Bürokratie, Verhaltensökonomie und dem Tech-Sektor. Der Tech-Sektor wird immer mehr Infrastruktur betreiben. Die Ziele werden Bürokraten setzen. Dabei werden die Strukturen aber nicht hinterfragt, sondern es wird immer mehr Verantwortung an BürgerInnen delegiert. Das könnte kurzfristig auch positive Ergebnisse hervorbringen. Und dann muss man beantworten können: Was kann ich dann tun, das eine bessere Stadt schafft, als wenn Google sie verwaltet? Man muss Menschen erklären können, was man anbietet, das besser funktioniert, sinnstiftender und weniger befremdlich ist. Da gibt es viel Platz für linke und progressive Kräfte.

Städte sind für dich in dieser Frage besonders bedeutend. Warum? 
Städte sind das Fundament, aber auch die anfälligsten Teile des heute existierenden Kapitalismus – vor allem in Westeuropa und Nordamerika. Technologie, Finanz- und Immobilienwirtschaft sind für den Kapitalismus die drei Industrien der Zukunft – und sie sind sehr städtisch geprägt. Das sind fast politische Blöcke. Die Interessen von vielen BürgerInnen fallen mit ihnen zusammen. Wenn du Aktien besitzt, ein Haus hast und Uber oder vor allem AirBnb benutzt, sind deine Interessen gerade voll in jene des kapitalistischen Systems integriert. Sie sind dann deine Quellen von Einkommen und Wohlstand. Menschen, die da nicht reinpassen, weil sie kein Eigentum haben, oder Schulden statt Kapitaleinkommen, oder die für Uber höchstens fahren aber es nicht für sich nutzen können, sind das wackeligste Glied in der kapitalistischen Hegemonie.

Was sind die besten Beispiele für demokratische Smart Cities?
Madrid unter der vorherigen, Barcelona unter der aktuellen Stadtregierung. In Barcelona wurde von einer fast antikapitalistischen Bewegung eine Veränderung eingeleitet. Das begann eigentlich, weil sie sich gegen Zwangsräumungen von Häusern durch Banken gestemmt hat. Man tut alles mögliche um Menschen einzubinden. Man versucht, dass Daten mit der Stadt geteilt werden. Die haben viel geschafft. Ich habe das aus nächster Nähe erlebt, weil meine Frau der Chief Technology Officer in Barcelona war. Darüber hinaus passiert auch in Amsterdam seit der Wahl im März etwas.

Was kann Wien von denen lernen und was vermeiden?
Man braucht mehr neues Personal und eine tiefe Reform des öffentlichen Sektors im Allgemeinen. Städte mit einer sehr robusten Bürokratie sind gerne versucht, zwar über Bürgerbeteiligung sprechen, aber wenig dafür tun. Wie eine Art Sandkiste, in der viel geredet aber nicht viel gebaut und entschieden wird. Das ist besonders so, wenn der Prozess von Leute betrieben wird, die schon zu lange an der Macht oder von Natur aus Technokraten sind. Vieles vom Widerstand kommt von Trägheit und bestehenden Verträgen, von persönlichen Beziehungen und auch von einer Drehtür für Personal zwischen Verwaltung und Industrie. Ich weiß nicht, ob das in Wien so ist, aber in Städten ist das für gewöhnlich so. 

In Barcelona war das anders?
Dort hat eine soziale Bewegung die Macht übernommen. Sie hatte vorher keine Beziehungen zur Bürokratie. Man muss etwas mutiger denken und so viele Außenseiter wie möglich ins System bringen. Vielleicht sogar Ausländer. Dass meine Frau in Barcelona so viel erreichen konnte, hat damit zu tun, dass sie nicht aus Katalonien stammt. Sie ist Italienerin. Sie hatte keine Verpflichtungen gegenüber lokalen Eliten, Politik und Clans. 

Die wichtigste Verhandlungsmasse für Städte sind öffentliche Aufträge.

Algorithmen beeinflussen immer mehr Verwaltungsaufgaben und Politik. In Österreich übernehmen sie nun die Zuweisung von Kursen für Arbeitslose. Wie können wir da Transparenz und demokratische Kontrolle bewahren?
Durch Regulierung und regelmäßige Überprüfungen der Algorithmen. Wir haben auch das Potential von freier und quelloffener Software noch nicht voll ausgeschöpft. Unsere Auftragsvergabe sollte stärker auf Firmen ausgerichtet sein, die mit offenem Code arbeiten. Und Firmen, die öffentliche Verträge bekommen wollen, und die Daten von BürgerInnen gewinnen, müssten die Daten zurück an die Stadt geben. Die wichtigste Verhandlungsmasse für Städte sind öffentliche Aufträge.

Daten, die sowohl der Firma aber auch der Stadt zur Verfügung stehen. Ist das, was man unter Daten als Allgemeingut versteht?
Ich mag diesen Begriff nicht so gerne. Er ist so unpolitisch. Es klingt als könnte man alles als Allgemeingut betreiben und schon wären alle Probleme gelöst. Aber ich würde es gar nicht so machen. Ich würde immer davon ausgehen, dass alle Daten der Öffentlichkeit gehören. Sie sind ein öffentliches Gut, das nicht privat besessen werden kann. Und wenn Firmen sie nutzen wollen, müssen sie Lizenzgebühren an die Allgemeinheit zahlen. Warum sollten die Firmen die Daten überhaupt besitzen?

Facebook, Google, Uber. Diese und ähnliche Firmen nutzen sehr viel öffentliche Infrastruktur. Aber sie zahlen auch kaum Steuern. Kann man das ändern?
Auch das würde einen europäischen Ansatz brauchen. Staaten und Städte haben keine Verhandlungsmasse. Norwegen konnte vor langer Zeit seine Ölfelder noch nach diesem Prinzip entwickeln: “Wir haben diese Ressourcen, du als Firma entwickelst sie, machst Geld daraus und in 20 Jahren schmeißen wir dich raus.” Warum ging das? Sie hatten etwas, das die andere nicht hatten. In diesem Fall ist das nicht so: Die BenutzerInnen in Wien sind etwas reicher, aber im Prinzip gleich wie die in Jerewan. Dadurch hat man keine Verhandlungsmasse, kann keine Ultimaten stellen. Ich kenne auf nationaler Ebene keinen effektiven Ansatz. Auf europäischer Ebene braucht es eine Kohäsion zwischen Ländern, die wir bisher nicht gesehen haben. Also ich halte meinen Atem nicht dafür an.

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