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Gesundheit
Ungleichheit

Gewalt an Frauen: “Betroffenen wird Entscheidungsmacht genommen”

Welche neuen Maßnahmen die Regierung gegen Gewalt an Frauen trifft und was sie für die Betroffenen bedeuten.
Jede zweite Frau in Österreich war seit ihrem 15. Lebensjahr schon einmal von Gewalt, jede dritte von sexualisierter Gewalt betroffen. Anlässlich der laufenden „16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen“ erklären wir, welche neuen Maßnahmen die Regierung gegen Gewalt trifft und was genau sie für die Betroffenen bedeuten.

Kurz vor der letzten Wahl wurde im Parlament ein Gewaltschutzpaket für Frauen beschlossen. Vorgelegt hat dieses Paket noch die türkisblaue Bundesregierung. Die Kritik von ExpertInnenseite war groß. Die tatsächlichen Probleme von Betroffenen werden mit dem Gesetzespaket nicht adressiert, meinen ExpertInnen.

Laut Parlament setzen die neuen Gewaltschutzmaßnahmen vor allem auf Betroffenenschutz und TäterInnenarbeit – also zum Beispiel die Therapie von Tätern, um Rückfälle zu vermeiden. Das klingt ja erst einmal ganz gut. Doch was heißt das konkret für Betroffene?

#1 Höhere Strafen für Gewalt

Kern des Gewaltschutzpakets sind die längeren Haftstrafen, die TäterInnen drohen. Die Mindeststrafe für eine Vergewaltigung wurde von ein auf zwei Jahre erhöht. Eine wirkungslose Maßnahme, sagt die Geschäftsführerin des Vereins der autonomen Frauenhäuser, Maria Rösslhumer. „Dieses höhere Strafmaß bringt überhaupt nichts, denn die Täter überlegen ja nicht vorher, wie hoch ihre Strafe sein könnte“.

Das Problem der Justiz ist nicht, so Rösslhumer, dass das Strafmaß zu gering ist, sondern, dass es meist gar nicht erst zur Verurteilung kommt. Ein Beispiel: Laut Bundeskriminalamt wurden im Jahr 2018 936 Vergewaltigungen angezeigt, doch laut Statistik Austria kam es lediglich zu 99 Verurteilungen.

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„Durch das höhere Strafmaß wird die Verurteilungsrate auch nicht höher“, sagt Rösslhumer. Sie kritisiert das Gewaltschutzpaket in allen Punkten. „Wir fordern statt der Erhöhung des Strafmaßes eine lückenlose Ermittlung von der Staatsanwaltschaft und der Polizei.“

Das erhöhte Strafmaß könnte zudem die Dunkelziffer der Gewaltdelikte, die nicht angezeigt werden, noch weiter in die Höhe treiben. Denn in den meisten Fällen sind die TäterInnen derzeitige oder frühere PartnerInnen der Betroffenen. Eine Frau, die von ihrem Partner misshandelt wird, könnte bei einer drohenden höheren Gefängnisstrafe für den Täter negative Konsequenzen für sich selbst befürchten, beispielsweise den Verlust der Wohnung, und deshalb keine Anzeige erstatten.

#2 Sexuelle Übergriffe müssen angezeigt werden

Haben MedizinerInnen den Verdacht, dass eine Person vergewaltigt wurde, die sie behandeln, müssen sie dies in Zukunft melden. „Den Betroffenen wird damit die Entscheidungsmacht genommen“, verurteilt Rösslhumer die Maßnahme. Die könnte dazu führen, dass Betroffene sich keine medizinische Hilfe suchen und dadurch noch schlimmere Folgeschäden erleiden. Denn nicht jede Frau, die nach einem mitunter traumatischen Angriff medizinische Hilfe sucht, möchte auch gleich Anzeige erstatten.

Nach dem Beschluss dieses Gesetzes wurde allerdings noch ein Antrag auf Abänderung eingebracht: Die Anzeige kann demnach unterbleiben, wenn dadurch das Vertrauensverhältnis zwischen PatientIn und HelferIn verletzte würde oder wenn die Anzeige gegen den Willen des oder der volljährigen PatientIn erfolgen würde. Es gibt Befürchtungen, dass PatientInnen ihre Rechte allerdings nicht immer so genau kennen und sich dadurch abschrecken lassen.

#3 Ein verändertes Betretungsverbot

Wegweisungen oder Betretungsverbote sind oft die erste Maßnahme, die die Polizei in Fällen von häuslicher Gewalt verhängt. 8.076 solcher Betretungsverbote wurden den österreichischen Gewaltschutzzentren und Interventionsstellen 2018 gemeldet. Zukünftig müssen die Weggewiesenen innerhalb von fünf Tagen ein Gewaltinterventionszentrum aufsuchen, um dort eine Beratung zu absolvieren.

Der Gefährder oder die Gefährderin darf sich nach der Aussprache des Betretungsverbots einem bestimmten Bereich von Betroffenen nicht mehr nähern – etwa der Wohnung oder dem Arbeitsplatz. Dieser Bereich wird nun von 50 auf 100 Meter erhöht. Die Maßnahme sei prinzipiell nicht verkehrt, aber zwecklos. Laut Rösslhumer lässt sie sich praktisch nicht umsetzen. Die Entfernung lasse sich mit freiem Auge gar nicht so genau abschätzen. Besser wäre, wenn Betroffene könnten bereits bei Sichtkontakt die Polizei verständigen.

Was eigentlich getan werden sollte

Ideen für sinnvolle Maßnahmen gibt es viele, die Interventionsstelle gegen Gewalt listet ganze 21 Vorschläge. Darunter sind zum Beispiel mehr Geld für DolmetscherInnen für die Beratung von nicht Deutsch sprechenden Frauen, Investitionen in Gewaltschutzeinrichtungen in ländlichen Gebieten sowie Forschungsprojekte, die sich mit einschlägigen Themen befassen.

 

Für die Umsetzung braucht es jedoch ein wesentlich höheres Gewaltschutz-Budget als die zehn Millionen Euro, die dem Frauenministerium jährlich zur Verfügung stehen. Pro ÖsterreicherIn sind das gerade einmal €1,20. Das 21-fache, also 210 Millionen Euro pro Jahr, seien nötig, um wirkungsvolle Maßnahmen zu treffen, fordern Gewaltschutzeinrichtungen.

Das klingt vielleicht viel, das Sparpotenzial ist allerdings sehr hoch: 2014 bezifferte das Europäische Institut für Gleichberechtigung die Folgekosten von geschlechtsspezifischer Gewalt in Österreich mit 3,7 Milliarden Euro jährlich. Zu den Folgekosten zählen beispielsweise die Kosten für Therapie und medizinische Versorgung von Betroffenen und für den Prozess der TäterInnen. Auch die entfallende Arbeitsleistung von Betroffenen, die durch die Gewalterfahrung verursacht wird, fällt darunter.

Frauenministerin Ines Stilling gab auf Anfrage an, dass sie zuletzt um eine Erhöhung des Budgets um vier Millionen Euro angesucht hat.

Kennst du jemanden, der Hilfe benötigt oder bist selbst von Gewalt betroffen? Die Frauenhelpline ist rund um die Uhr erreichbar: 0800 222 555

 

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