Ungleichheit

Ich arbeite im Gewaltschutz für Frauen: "Eine Anzeige lohnt sich auf jeden Fall"

Jenny (Name geändert) arbeitet als Sozialarbeiterin in einer Gewaltschutzeinrichtung für Frauen. In ihrem Beruf kriegt sie mit, was die Opfer von Männergewalt auf der Suche nach Gerechtigkeit durchmachen müssen. Hier erzählt sie, was sie wirklich denkt. 

Ich bin jetzt seit zwei Jahren Sozialarbeiterin im Gewaltschutzbereich für Frauen. Man arbeitet da in einem Team für ein breites Angebot an Unterstützung. Beispielsweise beraten wir von Gewalt betroffene Frauen und bieten Gespräche an, um Gedanken und Gefühle über das Erlebte zu sortieren. In manchen Fällen führen wir mit den Betroffenen über Monate hinweg “Entlastungsgespräche.” Daneben gehören Schulungen, Workshops und generelle Sensibilisierung zu unserer Arbeit – von Organisationen bis hin zu Einzelpersonen. 


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Ein großer Aspekt unserer Arbeit ist die Prozessbegleitung. Psychozial sind das Beratungsgespräche und die Begleitung zu allen möglichen Terminen – zur Polizei, zum Gericht, ins Krankenhaus. Juristisch wird  eine Anwältin finanziert, die auf Opfervertretung spezialisiert ist. Ich gendere jetzt bewusst nicht: Außer bei der Angehörigenberatung oder wenn wir bestimmte Berufsgruppen beraten, besteht unsere Klientel nur aus Frauen*. 

Die hohe Schwelle des Straftatbestands

Der erste Kontakt mit Betroffenen ist oft telefonisch. Man weiß nicht, was beim Klingeln auf einen zukommt. Das mag ich an sich, aber dafür muss man echt der Typ sein. Viele melden sich und wissen gar nicht, wo sie anfangen sollen. Einige sind unschlüssig, manche psychisch krank. Manchmal braucht es eine Krisenintervention. Wir bieten dann schnell einen Termin an, gerne auch persönlich, und auch mit Dolmetschmöglichkeit. 

Meistens geht es erst einmal darum, abzuklären, was die Klientin möchte. Dann schätzen wir ein, was sich machen lässt. Nicht für jede Grenzüberschreitung gibt es einen Paragrafen. Beispielsweise sexuelle Belästigung ist definiert als: “Intensives Berühren von Geschlechtsmerkmalen, willentlich, bewusst und über eine gewisse Zeit.” Das ist eine sehr hohe Schwelle. Wir helfen auch, mit dem Frust umzugehen, der dadurch entsteht. 

Nehmen wir eine typische Situation in der U-Bahn, die so oder so ähnlich viele Frauen kennen. In einem relativ leeren Wagon setzt sich ein Mann in einer Nische einer Frau gegenüber, Beine gespreizt, starrt sie an. Er formt einen Kussmund, zwinkert, wirft ihr ein Luftbussi zu oder etwas Derartiges. Das ist ganz klar sexuell, eindeutig eine Grenzüberschreitung. Als Straftatbestand wird es vermutlich nicht gewertet. 

Neue Herausforderungen im virtuellen Raum

Solange es Männer gibt, die glauben, sie könnten über Frauen Macht ausüben, werden sich gewisse Aspekte meines Jobs nie ändern. Dieses Problem gibt es nicht nur in verrufenen Bezirken, sondern in jeder Schicht. Mir fällt ein Anstieg an Cyberkriminalität auf. Sexuelle Belästigung im Internet oder Cyberstalking über Soziale Medien. Wenn ein Täter die nötigen IT-Skills hat, kann das sehr weit gehen. Er kann den Standort der Frau verfolgen, ihr Smart Home hacken, die Rollläden runter machen, die Heizung abdrehen, solche Sachen. Das stellt uns vor neue, große Herausforderungen. 

Nötig sind IT-Skills für Cybergewalt nicht. Oft werden während einer Beziehung App-Zugänge und Accountdaten geteilt. Dann kommt es vor, dass der Mann das nutzt, um die Frau zu überwachen. Oder dass er sie nach der Trennung über eine geteilte App ortet und ihr auflauert. Oder er kennt Codes von ihrem Handy - die lassen sich ja schnell ablesen. Damit kann er sich dann Zugang zu ihren E-Mails oder Social Media verschaffen. 

Beweisführung ist schwierig

Es werden um ein Vielfaches mehr Verfahren eingestellt, als dass es zu einer Hauptverhandlung kommt. Noch viel seltener kommt es zu einer Verurteilung. Dafür muss nämlich relativ eindeutig nachgewiesen werden, dass der Beschuldigte die Tat wirklich begangen hat. Bei Sexualdelikten ist das enorm schwierig. In den meisten Fällen gibt es keine Zeug:innen. Dann steht es Aussage gegen Aussage. 

Selbst wenn es der Betroffenen gelingt, sich nach der Tat ins Krankenhaus zu schleppen – was manche als sehr herausfordernd erleben – und die nötigen Untersuchungen zu durchlaufen, zählt gefundene DNA noch nicht als eindeutiger Beweis. Es sind Verletzungen nötig, um die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung zu steigern. Dabei braucht es so etwas für einen Übergriff nicht. Es kann sein, dass die Frau sich aus Schock oder Angst nicht wehrt. Es kann sein, dass sie unter Alkohol oder Drogen steht – auch nicht unbedingt willentlich. Der Täter müsste sich bei der Einvernahme wirklich dumm anstellen, damit so ein Fall vor Gericht landet. 

Der Fokus muss die Seite wechseln

Wenn das Verfahren eingestellt wird, weil es zu wenig Beweise gab, kann es durchaus sein, dass der Mann die Frau wegen Verleumdung anklagt. Die Einstellung eines Verfahrens ist auch deshalb oft eine Enttäuschung, weil davor die Hoffnung da ist, ein Verfahren könnte der Frau ein Stück weit bei der Verarbeitung helfen – was auch enorm individuell ist. 

Ich stehe überzeugt hinter der Einführung von “Nur Ja heißt Ja” ins Sexualstrafrecht. Derzeit werden Frauen bei der Einvernahme standardmäßig gefragt: “Wie hätte er erkennen können, dass Sie das nicht wollten?” Wenn nicht aktiv eine Verneinung geäußert oder sich körperlich gewehrt wurde, wird es bereits extrem schwierig. Außerdem wird die Frau dadurch psychisch noch weiter belastet. Eigentlich sollte der Beschuldigte gefragt werden, woran er seiner Meinung nach den Konsens erkannt hat. Das würde den Fokus vom Opfer auf den Täter lenken. 

Eine Anzeige lohnt sich auf jeden Fall

Was ich jetzt an Problemen aufgezählt habe, soll aber nicht abschrecken. Eine Anzeige lohnt sich auf jeden Fall. Es geht ums Prinzip, und vielleicht hatte der Täter ja schon einmal eine oder kriegt in Zukunft noch eine. Selbst wenn in den einzelnen Fällen Informationen oder Beweise fehlen, deuten womöglich Überschneidungen darauf hin, dass es derselbe Täter ist. Sagen wir, es war beide Male ein Fotograf oder ein Essenslieferant - wobei jetzt bitte keine Berufsgruppe verallgemeinert werden soll. Vielleicht verdichten sich beide Anzeigen doch zu einer konkreten Spur. Für uns ist das dann ein Erfolgserlebnis. 

Wenn man keine Anzeige erstatten will, können wir auf anderen Ebenen helfen, vor allem emotional und psychisch. Ein weiterer großer Aspekt unserer Arbeit ist es, bei den Betroffenen wieder ein Gefühl von Selbstbestimmung zu fördern. Wir haben Expertise darin, was dabei nach solchen Erfahrungen von Gewalt helfen kann. 

Zusammenhalt und Sinn

Wir sind grundsätzlich parteiisch für die Frau. Das sehe ich als Luxus. Die Bewertung übernehmen sowieso andere. Neben der Polizei und der Justiz zweifeln manchmal sogar die Angehörigen an der Betroffenen – ein Schutzmechanismus. Gerade in der Zeit nach dem Übergriff ist es aber wichtig, dass jemand einfach hinter dem Opfer steht. Es gibt sogar Studien, die zeigen, dass dieser Zusammenhalt präventiv gegen posttraumatische Belastungsstörung wirken kann. 

Frauen, denen fürchterliche Sachen passiert sind, wenden sich an uns. Wir müssen uns regulieren, das aushalten, uns abgrenzen, aber gleichzeitig empathiefähig bleiben. Es ist täglich ein Balance-Akt, damit positive Gefühle die Oberhand behalten. Zusammenhalt war ein gutes Stichwort. Bei dieser Arbeit besteht ein großes Wir-Gefühl. E-Mails unterschreiben wir ganz oft mit “das Team.” Von Spaß könnte ich bei meinem Job nie sprechen. Aber durch diesen Zusammenhalt und dieses Wir-Gefühl spüre ich, wie viel Sinn er macht. 

Über diesen Text: Für unsere Reihe "Was ich wirklich denke" arbeiten unsere Journalist:innen mit Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen zusammen. Sie erzählen uns, auf welche Rahmenbedingungen sie dabei stoßen, wie sie die Situation erleben und wie es ihnen dabei geht.  Aus diesen Gesprächen und nach Faktenchecks entstehen dann die Texte. Die Perspektive bleibt die der Befragten. Auf Wunsch können sie dabei anonym bleiben.


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