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Ungleichheit
Demokratie

Wieso ein Landkreis kleine Straftaten nicht mehr verfolgt

Wer eine Tat begeht, muss strafrechtlich verfolgt werden. So denken viele, aber stimmt das auch? Eine neue Studie aus den USA zeigt, dass Anzeigen und Strafen manchmal kein guter Weg sind.

Kriminelle muss man hart bestrafen, damit sie nicht erneut straffällig werden? Harte Strafen schrecken ab? Dieser Glauben ist weit verbreitet. Aber stimmt das wirklich?

Die österreichischen Gefängnisse sind zu voll. Vor der Corona-Pandemie lag etwa die Auslastung des Gefängnisses in der Wiener Josefstadt bei 113 Prozent. Das heißt: zu wenig Platz, zu wenig Personal, schlechte Betreuung und manchmal menschenunwürdige Zustände. Und wir sperren gemessen an der Größe der Bevölkerung deutlich mehr Menschen ein als andere Länder in Europa.

Aber es geht noch schlimmer. In den USA sind pro 100.000 Einwohner:innen sechs Mal mehr Menschen in Haft als in Österreich. Strenge und lange Haftstrafen auch für gewaltlose Taten haben dort Tradition.

Ausgerechnet eine neue US-amerikanische Studie deutet jetzt darauf hin, dass die strenge Verfolgung von kleinen Vergehen zu mehr Kriminalität führt.
 

Der Unterschied zwischen den USA und Österreich

In den USA werden Straftaten grob in zwei Kategorien geteilt. „Felonies“ sind mit „Verbrechen“ in Österreich vergleichbar. Darunter fallen Straftaten wie schwere Körperverletzung. „Misdemeanors“ sind ähnlich der österreichischen „Vergehen“. Die Kategorien sind aber nicht deckungsgleich. Die Ergebnisse der US-Studie können also nicht direkt auf die Situation in Österreich übertragen werden.

Hintergrund der Studie ist der Umgang mit kleinen Vergehen in Suffolk County, wo auch die bekannte Stadt Boston liegt. In diesem Bezirk wurde 2019 damit aufgehört, bestimmte Vergehen zu verfolgen. Etwa der Besitz einer kleinen Menge von Drogen, kleinere Ladendiebstähle oder Ruhestörung gehören dazu – jedenfalls alle Verbrechen ohne Gewaltanwendung. 

Forscher:innen haben versucht herauszufinden, wie sich dieser Ansatz auf die Kriminalitätsrate und die Anzahl an Gefangenen auswirken könnte. Sie konnten sowohl vergleichen, was vor und nach der neuen Regelung passierte. Aber auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Staatsanwält:innen wurden für die Studie genutzt; manche waren eher strenger, andere mild bei der Verfolgung.

Mehr als 67.000 Fälle von kleinen Vergehen zwischen 2004 und 2020 wurden untersucht, um herauszufinden, wie sich die Verfolgung, bzw. die Nicht-Verfolgung von „harmlosen“ Straftaten auswirkt.

Keine strafrechtliche Verfolgung von kleinen Vergehen führte zu weniger Gewalt

Das überraschende Ergebnis: Insgesamt gab es in Suffolk County weniger Kriminalität, und auch Gewalttaten gingen zurück. Bei vergleichbaren Beschuldigten kam es zu 69 Prozent weniger Strafanzeigen innerhalb von zwei Jahren, wenn eine kleine Straftat vorher nicht verfolgt wurde.

Um 67 Prozent sank die Zahl der neuen Anzeigen wegen kleiner Vergehen und um 75 Prozent die Strafanzeigen wegen Verbrechen. Wer wegen eines kleinen Vergehens nicht strafverfolgt wurde, wurde danach um 64 Prozent weniger häufig wegen einer Gewalttat angeklagt.

Besonders stark war der Effekt der Nicht-Verfolgung bei Ersttäter:innen. In der aktuellen Studie haben die Forscher:innen nicht die Gründe für diese überraschenden Ergebnisse untersucht. Wahrscheinlich ist es allerdings, dass es für Täter:innen schwierig ist, selbst nach einer kurzen Haftstrafe oder einem Prozess wieder zurück ins Leben zu finden. Sie verlieren wegen einer Anzeige vielleicht ihren Job, Verurteilungen lassen sich im Strafregister finden. „Es gibt sehr gute Belege dafür, dass strafrechtlich verfolgt zu werden Menschen verändert und wie sie für den Rest ihres Lebens behandelt werden“, sagt die Co-Autorin der Studie Anna Harvey

„Harte Gesetze schaffen nicht immer Sicherheit“

Gerade in den USA könnte dieses Ergebnis wegweisend sein. Denn bis zu 80 Prozent aller Fälle, mit denen sich Strafgerichte beschäftigen, sind kleinere Vergehen. Laut NYU werden jedes Jahr mehr als 13 Millionen Amerikaner:innen wegen solcher Vergehen verurteilt. Wenn in Zukunft mehr Bezirke die Verfolgung von kleinen Vergehen ohne Opfer einstellen, könnte das Gefängnisse entlasten. Menschen, die harmlose Taten begangen haben, bekämen eine zweite Chance. Für alle wäre das Leben sicherer.

„Wir beginnen zu lernen, dass harte Gesetze nicht immer öffentliche Sicherheit schaffen“, sagt Harvey, „Diese Studie weist darauf hin, dass sie uns sogar weniger sicher machen.“

 

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