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Ungleichheit

Von wegen Gleichstellung: Wieso Frauen heute immer noch "süß" sein müssen

Sanft, zart und süß - auch heute werden Frauen noch in Rollen gedrängt, die sie klein halten. Dieses Problem können wir nur gemeinsam lösen. Foto: Sophie Meuresch
Sanft, zart und süß - auch heute werden Frauen noch in Rollen gedrängt, die sie klein halten. Dieses Problem können wir nur gemeinsam lösen. Foto: Sophie Meuresch

Ann-Kristin Tlusty zeigt in ihrem Buch "Süß" die engen Rollen auf, in die Frauen auch heute noch gedrängt werden. Sie sollen sich kümmern, sexuell jederzeit verfügbar sein und wenn möglich keine eigenen starken Meinungen haben.

Frauen putzen mehr, kommen beim Sex weniger oft und landen schließlich in der Altersarmut. Hätten sie sich eben einen Mann gesucht, der im Haushalt hilft, sich beim Sex selbstbewusst genommen, was ihnen zusteht und rechtzeitig in die private Altersvorsorge investiert. Oder?

Ann-Kristin Tlusty beschreibt in ihrem Buch „Süß“, wie gesellschaftliche Probleme zur Verantwortung einzelner Frauen gemacht werden. Das reicht aber nicht, um echte Gleichstellung zu erreichen. Mit MOMENT hat Tlusty über politischen Sex, Schokoladensucht und die Strategien rechtsextremer Frauen gesprochen.

MOMENT: Gleich am Anfang deines Buchs geht es um Schokolade. Was hat das mit der Unterdrückung von Frauen zu tun?

Ann-Kristin Tlusty: Nach sieben Jahren Abstinenz habe ich vor einiger Zeit mein altes Couchsurfing-Profil angeschaut und festgestellt, dass ich dort mit neunzehn „eating chocolate“, also „Schokolade essen“, als Hobby angegeben hatte. Diese winzige Beobachtung verrät viel darüber, wie wir uns sogenannte Weiblichkeit imaginieren: als etwas, das verfügbar, konsumerabel ist und nicht aneckt.

Du beschreibst drei Figuren: die „sanfte“, die „süße“ und die „zarte“ Frau. Welche Merkmale haben sie und wie wirken sie sich auf das Leben von Frauen aus?

Ann-Kristin Tlusty: Mit den Figuren meine ich weniger konkrete Personen, sondern vielmehr Vorstellungen, Mythen und Annahmen über Weiblichkeit, die historisch gewachsen sind und sich bis heute niederschlagen. Die “sanfte” Frau illustriert, dass Frauen wie selbstverständlich noch immer den Großteil der Sorgearbeit leisten, sei es beruflich oder privat. Unsere Wirtschaftsweise beruht darauf, dass diese Arbeit ausgebeutet wird. Die “süße” Frau hingegen steht dafür, dass Frauen bei allem feministischen Fortschritt als sexuell verfügbar gelten – eine Annahme, die sich auf perfide Weise bis in sexpositive Diskurse einschleicht. Und die “zarte” Frau veranschaulicht, dass Frauen in den verschiedensten Zusammenhängen die Selbstständigkeit und Mündigkeit abgesprochen wird, mal mehr, mal weniger subtil. Die drei Figuren eint, dass sie nicht nur von außen zugeschrieben werden, sondern dass Frauen sie natürlich auch internalisieren.

Du hast eben schon angesprochen, dass Frauen sexuell verfügbar sein sollen. In deinem Buch argumentierst du, dass wir trotz aller Fortschritte noch längst keine befreite Sexualität leben. Wieso?

Ann-Kristin Tlusty: Unsere Sicht auf Sexualität hat sich in den letzten Generationen gewandelt. Meine Großmutter ist damit aufgewachsen, dass man über Sex erst gar nicht spricht. Meine Mutter hingegen mit der Idee, dass Sexualität zwar Teil der Lebensqualität ist, aber immer noch etwas, das man als Frau „hüten“ muss, um nicht als „Schlampe“ zu gelten. Ich bin mit Sexpositivität aufgewachsen, auch wenn ich den Begriff als Teenager nicht kannte. Mit der Idee, dass es cool ist, wenn Frauen sich das nehmen, was sich Männer jahrzehntelang selbstverständlich genommen haben. Solch eine Haltung setzt natürlich auch unter Druck – und führt noch lange nicht dazu, dass Sex dadurch selbstbestimmter ist.

„Die süße Frau gibt sich sexuell allzeit bereit – und das teils auch unter feministischem Vozeichen.“ – Ann-Kristin Tlusty in „Süß“
 

Wie kann befreite Sexualität überhaupt aussehen?

Ann-Kristin Tlusty: Ich glaube, wir müssten von sämtlichen Erwartungen wegkommen. Wir müssten akzeptieren, dass wir ständig an Skripten und Drehbüchern scheitern, gerade in heterosexuellen Begegnungen – und dass schöner Sex vermutlich im gemeinsamen Scheitern besteht.

Du zeigst in dem Zusammenhang die Schwächen der Parole „Ja heißt ja” auf. Wieso reicht es nicht, beim Sex aktive Zustimmung einzuholen?

Ann-Kristin Tlusty: „Ja heißt Ja“ soll betonen, dass Sex auf Einvernehmen beruht, das aktiv eingeholt wird. Anders als beim Vorgänger „Nein heißt Nein“ liegt der Fokus auf der handelnden Person. Und diese Entwicklung ist natürlich wichtig. Aber es greift zu kurz, Sex als etwas zu betrachten, das lediglich zwischen Individuen passiert. Machtverhältnisse und Hierarchien schlagen sich auch in sexuellen Begegnungen nieder. In meinem Buch zitiere ich eine Anekdote, in der eine Frau einen jüngeren Mann datet. Sie ist überrascht davon, dass er bei jedem sexuellen Schritt ihre Zustimmung einholt. Als sie ihn dann auch einmal fragt, ob ihm das jetzt gefalle, sieht er sie überrascht an und sagt, er sei es doch, der ihr etwas antun könne, nicht umgekehrt. Wer Konsens so lebt, schreibt alte Rollen fort: der Mann als aktiver Part und möglicher Aggressor, die passive Frau, die ihn gewähren lässt.

Heißt das umgekehrt, in einer gleichberechtigten Gesellschaft haben wir besseren Sex?

Ann-Kristin Tlusty: Sexualforschung aus den ehemaligen Ostblockstaaten, in denen bei aller Grausamkeit das Geschlechterverhältnis ausgewogener war, legt das nahe. Diese Studien sind natürlich ideologisch gefärbt, zeigen aber eine interessante Entwicklung: Frauen im Osten berichteten davon, sexuell glücklicher zu sein, als Frauen im Westen parallel dazu angaben. Und das ist ja logisch: Ostfrauen hatten ein eigenes Einkommen und dadurch ein selbstbewussteres Standing in Hetero-Beziehungen. Ich bin mir sicher, dass wirtschaftliche Verhältnisse unsere Sexualität beeinflussen. Deswegen finde ich es schwierig, wenn man so tut, als könne man durch Sex allein zur ultimativen Befreiung finden. Die Befreiung muss woanders stattfinden.

„Die zarte Frau ist eine Hälfte, ein Schatten, ein Komplement, harmlos, abhängig, unschuldig, lieblich“ – Ann-Kristin Tlusty in „Süß“
 

Du beschreibst auch, wie sich manche Frauen Zartheit strategisch zunutze machen.

Ann-Kristin Tlusty: Strategische Zartheit ist Selbstverharmlosung in einem politischen Zusammenhang. Beobachten kann man das am Beispiel der NSU-Terroristin Beate Zschäpe. Vor Gericht gab sie sich labil und nichtsahnend, als hätte sie von den Morden des NSU nichts gewusst. Ihre Verteidigungsstrategie bestand darin, sich als zart zu stilisieren. Frauen wie Zschäpe machen es sich zunutze, dass es gemeinhin noch immer schwerfällt, Frauen als Täterinnen zu imaginieren. In der Neuen Rechten lässt sich beobachten, dass sich Frauen nicht nur selbst als harmlos darstellen, sondern auch strategisch eingesetzt werden: Sie sind oftmals die zarten Gesichter brutaler Ideologien. Brittany Pettibone, Marine Le Pen, Naomi Seibt, die Beispiele sind zahlreich.

Den meisten Frauen werden diese Rollen eher aufgezwungen. Müssen wir möglichst hart werden, um diesen Zwängen zu entkommen?

Ann-Kristin Tlusty: Das Problem liegt darin, dass die Figuren, die ich beschreibe, einem einzigen Geschlecht angelastet werden. Dabei sind Sanftheit und Zartheit wichtige Werte, die allen Geschlechtern zugänglich sein sollten. Frauen sollen nicht versuchen müssen, die männliche Norm zu erfüllen. Alle Menschen sollten zart sein können.

Wie kommen Frauen also aus diesen einschränkenden Rollen wieder raus?

Ann-Kristin Tlusty: Mir ist wichtig, zu betonen, dass die Figuren, die ich beschreibe, ein kollektives Problem darstellen, das einzelne Frauen nicht allein lösen können. Sie sind historisch über Jahrhunderte gewachsen und haben sich, beispielsweise in der Trennung von Erwerbs- und Sorgearbeit, institutionalisiert. Individuelle Appelle an Frauen, sie sollen sich von den Zwängen befreien und sich selbst ermächtigen, sind darum nicht die Lösung. Ich plädiere für realpolitische Veränderungen. Altersarmut, Wohnraummangel, die schlechtere Bezahlung in Care-Berufen, das alles sind politische Probleme. Die materielle Aufwertung von Sorgearbeit, die Verkürzung der Erwerbstätigkeit, höhere Löhne und Renten, günstiger Wohnraum für alle – das sind Maßnahmen, die unsere Welt wesentlich feministischer machen würden.

 
 
 
 
 
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Ann-Kristin Tlusty ist Journalistin bei Zeit Online. Sie hat Kulturwissenschaften und Psychologie studiert. Hier kannst du ihr auf Instagram und Twitter folgen. „Süß“ ist im Hanser Verlag erschienen.

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