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Ungleichheit auch bei Wahlen: "Arme gehen seltener wählen"

Wer arm oder arbeitslos bleibt der Wahlurne eher fern. Das ist für die Demokratie ein großes Problem. Politikwissenschaftlicherin Tamara Ehs hat Ideen, wie wir das ändern können.

Wieso gehen so viele Menschen nicht wählen und was braucht es, um das zu ändern? Über eine gesetzliche Wahlpflicht, Bürgerräte und darüber, was wir selbst tun können, um die Demokratie am Leben zu halten, spricht Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs im Gespräch mit Podcaster Andreas Sator für Erklär mir die Welt. Das Interview zum Lesen gibt es bei uns.

https://player.simplecast.com/f941e654-3c93-4404-a9d4-a0e303e73a35?dark=true

Andreas Sator: Wie steht es um die Beteiligung an der österreichischen Demokratie?

Tamara Ehs: Eine Art das zu messen ist die Wahlbeteiligung. Da sehen wir: Es ist relativ einfach, an Wahlen teilzunehmen, etwa mit der Briefwahl. Wir sehen aber auch, dass bei Nationalratswahlen 20-25 Prozent der Menschen ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen. Bei anderen Wahlen sind das noch viel mehr. Dann gibt es noch eine immer größere Gruppe an Menschen, die nicht wählen dürfen.

 

Bleiben wir bei der Nationalratswahl, die steht ja vor der Tür. Die Gruppe, die nicht wählen geht – sind das immer die gleichen Menschen?

Wir sehen hier eine gewisse soziale Schieflage. Es gibt eine Studie von Sora für die Nationalratswahlen 2013. Da sieht man: Wer lange arbeitslos ist, geht weniger wahrscheinlich wählen. Diese Menschen sind oft abgeschnitten von einem gewissen Teil des gesellschaftlichen Lebens und sehen vielleicht, dass die Politik auf ihre Probleme keine Antworten gibt. Dann gibt es Leute, die sich denken, die Politik ist eh nur für die Reichen da, für die, die es sich schon richten können. Das führt dazu, dass sie nicht wählen gehen. Europaweit gibt es dazu mehr Studien. Arme, Armutsgefährdete und Menschen mit niedrigem formalen Bildungsabschluss und weniger hohem Einkommen gehen seltener wählen.

 

Was ein Problem ist, weil ihre Interessen dann schlechter gewahrt sind?

Ja. Parteien orientieren sich an den Menschen, die sie wählen.

 

Sollen wir eine Wahlpflicht einführen?

Die hatten wir schon einmal. Am längsten für die Bundespräsidentschaftswahl, das ging in Tirol und Vorarlberg bis 2004.

Was ist damals passiert, wenn jemand nicht wählen gegangen ist?

Da hat man eine Verwaltungsstrafe bekommen. Die wurden dann am Ende aber fast nicht mehr verhängt, es war sozusagen totes Recht, also hat man die Pflicht abgeschafft.

 

Eine Wahlpflicht wäre eine einfache und radikale Variante.

 

Ist die Wiedereinführung also eine Idee?

Der erste Reflex ist für viele: Nein. Weil der einzelne Mensch frei sein soll in seiner Entscheidung. Je länger ich mich damit wissenschaftlich befasse, desto eher neige ich dazu, hier eine Möglichkeit zu sehen, mehr Menschen in den politischen Prozess einzubinden, die sonst nicht gesehen werden. Eine Wahlpflicht wäre eine einfache und radikale Variante, aber ich möchte die PolitikerInnen nicht so einfach davonkommen lassen. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie können wir jemanden zum Wählen motivieren? In Bulgarien gab es vor einigen Jahren eine Lotterie. Man konnte mit der Stimme Fernseher gewinnen, ein Auto oder eine Reise. Die Wahlbeteiligung ist etwas gestiegen, aber wir können nicht sagen, ob das wegen der Lotterie war. Wir haben in Österreich schon ein ähnliches Konzept. Bestimmtes Verhalten wird an Geld geknüpft. Zum Beispiel beim Mutter-Kind-Pass. Wenn ich nicht zu allen Untersuchungen gehe, dann bekomme ich nicht das volle Kinderbetreuungsgeld. Warum nicht das auch mal für die Wahlbeteiligung probieren?

 

Wenn wir die Parteiförderung halbieren, könnten wir einige Fernseher kaufen.

Ich habe mir dazu etwas überlegt. Wir bleiben bei dem Betrag, ziehen aber für jede Person, die nicht zur Wahl gegangen ist, etwas ab. Dieses Geld stecken wir in eine allgemeine Demokratieförderung.

 

Was sollen wir dann mit dem Geld machen?

Wir haben in Österreich viele Vereine, die sich um die Demokratie kümmern und viele Ideen haben. Ich schaue gerne nach Vorarlberg. Dort gibt es seit einigen Jahren Bürgerräte. Das funktioniert so: Menschen werden mithilfe des Melderegisters gelost und eingeladen teilzunehmen. Die Bürgerräte setzen sich dann zusammen und diskutieren politische Themen. In Madrid sind solche Räte eine Institution. Gerade startete auch Ostbelgien einen Bürgerrat, der das politische System dort um ein weiteres Gremium erweitern. So werden auch Menschen und Perspektiven gehört, die im Parlament nicht vertreten sind.

 

Und was bringen solche Bürgerräte?

Wir haben Daten aus Irland, wo die Bürgerräte mittlerweile schon fast neun Jahre ablaufen. Die Medien haben viel berichtet, diese Citizen’s Assemblys sind öffentlich, es gibt einen Livestream. Wir haben Studien, die zeigen, dass es eine ganz klare Verbindung gibt zu einem gesteigerten Vertrauen zu der Demokratie und ihren Institutionen und sogar zu den handelnden Personen. Die BürgerInnen sehen, meine Stimme zählt, sie wird gehört. Und sie sehen, wie Politik eigentlich funktioniert, wie schwierig es sein kann, einen Kompromiss zu finden. In Irland haben sich einige TeilnehmerInnen danach in anderen politischen Gremien engagiert. Sie haben gesehen: Politische Meinungsbildung ist keine Hexerei, dafür muss ich nicht studiert haben, ich kann das.

 

Das ärmere Drittel bricht weg.

 

Um das zusammenzufassen: In Österreich gibt es nicht nur Ungleichheit beim Einkommen und Vermögen, sondern auch bei der politischen Teilnahme. Und das wirkt sich darauf aus, wie PolitikerInnen mit den Wünschen bestimmter Gruppen umgeht.

Genau. Die Ungleichheit an Bildungsabschlüssen, Einkommen und sozialem ansehen übersetzt sich in politische Ungleichheit. Früher war das anders. In der 80er Jahren war die Wahlbeteiligung in den verschiedenen Einkommensschichten etwa gleich verteilt. Seit einigen Jahren klafft das völlig auf. Die Mittel- und Oberschicht geht im fast gleichen Ausmaß wählen wie früher, aber das untere Drittel bricht weg. Die Arbeits- und Sozialpolitik muss sich komplett ändern, sodass sie eingreift in die sich weitende Schere der ökonomischen Ungleichheit. Es gibt keine stabile Demokratie, wenn wir nicht diese neuen sozialen Fragen beantworten und diese Schieflage in Angriff nehmen.

 

Jetzt fragen sich sicher einige: Was kann ich tun?

Demokratie beginnt jeden Tag mit Zivilcourage. Wir können mitmenschlich handeln und über uns selbst hinaus denken. Wir überlegen uns nicht nur, was für uns selbst wichtig ist, sondern wie es anderen geht. Das können wir überall üben: In der Familie, in der Arbeit, in der Lehre. Wir können uns im Betriebsrat engagieren, gegen die Klimakrise kämpfen und Mitglied bei einem Verein werden, der die Demokratie weiterentwickelt. Da gibt es zig Möglichkeiten. Wenn wir etwas gefunden haben, dann können wir noch bei der Nachbarin oder dem Nachbarn klingeln und fragen: Kommst du mit?

 
Tamara Ehs mit zurückgebundenen Haaren lächelt direkt in die Kamera
 

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