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Demokratie

Von Verkehrsberuhigung zur Vollüberwachung: Das Problem mit der StVO-Novelle

Von Verkehrsberuhigung zur Vollüberwachung: Das Problem mit der StVO-Novelle
Big Brother is watching Fotocredit: WebTechExperts
Die von der Bundesregierung geplante StVO-Novelle könnte umfassende Echtzeitüberwachung im öffentlichen Raum ermöglichen. Warum das ein Risiko für Demokratie, Datenschutz und Grundrechte ist.

Stell dir vor, du gehst auf eine Demo in der Innenstadt. Bevor du noch dein Transparent hochhältst, hat dich schon eine Kamera erfasst und dein Gesicht gespeichert.  Genau dieses Szenario soll jetzt mit einer Änderung der Straßenverkehrsordnung möglich werden.In den falschen Händen  können solche Aufnahmen reichen, um Menschen einzuschüchtern und zu überwachen. 

Mit der geplanten 36. Novelle zur Straßenverkehrsordnung (StVO) will die Bundesregierung ein weitreichendes System von Kamerakontrollen an den Zufahrten zu Städten durchsetzen. Angeblich, um Verkehrsströme in Innenstädten (besonders in der Wiener Innenstadt) besser zu regulieren. Die Koalition aus ÖVP, SPÖ und Neos präsentiert das als notwendigen Schritt zur Verkehrsberuhigung für sensible Zonen. Tatsächlich öffnet der Entwurf jedoch die Tür für eine flächendeckende Videoüberwachung mit Echtzeitzugriff der Polizei, ohne starke gesetzliche Einschränkungen. Das „kamerabasierte Zufahrtsmanagement“entpuppt sich bei genauer Analyse als gefährlicher Umbau des öffentlichen Raums hin zu einer weitreichenden Überwachungsinfrastruktur. Und das betrifft bei weitem nicht nur Wien. Die Kritik am Entwurf ist massiv. Am vergangenen Donnerstag demonstrierten in Wien Bürgerrechtsorganisationen, darunter epicenter.works und Amnesty International,  gegen diese drohende Ausweitung staatlicher Kontrolle. . Die Demo richtete sich nicht nur gegen die geplante Überwachung selbst, sondern auch gegen die politischen Erzählungen, die diese Maßnahmen als harmlose Verkehrsoptimierung verkaufen wollen.

Verkehrsberuhigung im Vordergrund – Überwachung durch die Hintertüre

Ursprünglich hatte die damalige Verkehrsministerin Leonore Gewessler (Grüne) im Jahr 2024 einen deutlich restriktiveren Vorschlag vorgelegt: Die Kameras sollten ausschließlich Kennzeichen erfassen dürfen, die Datenverarbeitung sollte streng zweckgebunden sein , und Demonstrationen sowie Versammlungen  sollten von der Erfassung ausgenommen sein. Vor allem aber war im ersten Entwurf kein Echtzeitzugriff der Polizei vorgesehen. 

Diese wesentlichen Einschränkungen sollten verhindern, dass das System zu einem Überwachungsinstrument mutiert oder zur Ausspähung politischer Aktivitäten missbraucht wird. Sie hätten das Vorhaben demokratisch vertretbar gemacht. Doch im neuen Entwurf der jetzigen Regierung fehlen genau diese Schutzmechanismen 

Übrig blieb ein Gesetzesentwurf, der den öffentlichen Raum tiefgreifend verändern könnte und mit Gewesslers ursprünglicher Balance zwischen Verkehrsorganisation und Grundrechtsschutz kaum noch etwas gemeinsam hat.

Von Autokennzeichen zu Gesichtern

Das zentrale Problem liegt in der technischen Natur der Überwachung: Kameras erfassen nie nur Kennzeichen, sondern immer vollständige Bilder. Auch wenn die Regierung in ihrer Gesetzesbegründung versucht, die Kameras als reine Maßnahme zur  Verkehrslenkung darzustellen, geraten zwangsläufig auchPassant:innen, Radfahrer:innen, Kinder auf dem Schulweg, Tourist:innen und auch Demonstrierende ins Blickfeld. Eine Infrastruktur, die so umfassend Daten sammelt, schafft laut Kritiker:innen automatisch neue Ideen zur Auswertung Und je mehr Überwachungspunkte eingerichtet werden, desto größer wird für Gemeinden und Behörden die Versuchung, die Systeme über ihre ursprünglichen Zwecke hinaus zu nutzen. Datenschutzaktivist:innen bezeichnen diesen Effekt, bei dem eine Technologie über das ursprünglich Geplante hinaus verwendet oder entfremdet wird., als “function creep”.

Die Polizei schaut zu – rund um die Uhr

Der vielleicht folgenreichste Punkt ist der Echtzeitzugriff der Polizei.  Der aktuelle Entwurf räumt den Sicherheitsbehörden einen dauerhaften Zugriff auf alle Kameras ein, in Echtzeit, rund um die Uhr, ganz ohne richterliche Kontrolle, ohne Anlassfall und ohne strenge Beschränkung.  Aus behördlicher Sicht mag das praktisch sein, doch aus demokratischer Perspektive wäre es ein gefährlicher Wendepunkt: Erstmals  würde damit in Österreich ein System staatlicher Sofortüberwachung entstehen..

Eine solche Echtzeitüberwachung bedroht die Versammlungsfreiheit, weil Demonstrationen in überwachten Zonen live beobachtet werden könnten. Das kann einen sogenannten „Chilling Effect“ erzeugen, also eine Atmosphäre der Einschüchterung, in der Menschen politische Aktivitäten meiden, weil sie sich permanent beobachtet fühlen. 

Hinzu kommt die fehlende richterliche Kontrolle: Es gibt im Entwurf keine unabhängige Stelle, die prüft, ob ein Zugriff gerechtfertigt war. Die Datenschutz-NGO Epicenter.works fasst diese Gefahr treffend zusammen: „Wer einmal Echtzeitüberwachung einführt, schafft eine Infrastruktur, die sich politisch nicht mehr einfangen lässt.“ Genau diese Art grenzenloser Überwachung wollte Gewessler mit ihrem ursprünglichen, deutlich strengeren Entwurf verhindern. 

Überwachung als Geschäftsmodell

Ein bisher wenig beachtetes Problem ist der finanzielle Anreiz für Gemeinden. Viele Gemeinden sähen im neuen Modell eine Möglichkeit, zusätzliche Einnahmen zu generieren, sagen Datenschützer:innen. Die Systeme funktionieren wie ein vollautomatischer „digitaler Schranken“, der jede Einfahrt kontrolliert und Verstöße unmittelbar sanktioniert. Jede zusätzliche Kamera bedeutet potenziell hunderte oder tausende Strafen pro Monat und damit neues Geld für die Gemeindekassen. Gleichzeitig ist der technische Aufwand gering: Automatisierte Systeme überwachen 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, ohne dass dafür zusätzliche Beamt:innen gebraucht würden. Politisch lässt sich diese Art der Überwachung zudem elegant verpacken: Statt neue Gebühren zu beschließen, können Städte und Gemeinden das System als Maßnahme zugunsten der Verkehrsberuhigung und des Umweltschutzes deklarieren und dennoch von den zusätzlichen Einnahmen profitieren. Bürgerrechtsorganisationen warnen davor, dass solche Fehlanreize zu einem unkontrollierten Ausbau überwachter Zonen führen können. Epicenter.works etwa spricht von einem drohenden „Wildwuchs überwachten Raums“.

Überwachung bald auch in deiner Gemeinde

All diese Probleme beschränken sich  keineswegs auf die Wiener Innenstadt. Die Novelle gilt für sämtliche Gemeinden in Österreich,vom Tourismusort bis zur Kleinstadt. Mit dem aktuellen Entwurf würde jede Kommune das Recht erhalten, eigene Überwachungszonen zu definieren, und zwar nach eigenen Kriterien. Dadurch droht ein unüberschaubarer Flickenteppich der Kontrolle, in dem Bürger:innen ständig Gefahr laufen, unabsichtlich in überwachte Bereiche zu gelangen. Es fehlt an klaren Vorgaben, wie notwendig, verhältnismäßig oder datenschutzkonform ausgestaltet solche Zonen sein müssen. Damit besteht das Risiko, dass auch sensible Orte wie Marktplätze, Veranstaltungsflächen, Schulumfelder oder touristische Hotspots in Zukunft unter ständiger Beobachtung stehen. Was heute als Pilotmaßnahme für Wien dargestellt wird, könnte morgen der Normalzustand in Städten und Gemeinden im ganzen Land sein.

Bei der Demonstration betonten Organisationen und Teilnehmer:innen, dass demokratische Freiheiten nicht im Namen technischer Effizienz geopfert werden dürfen und dass Alternativen längst existieren: echte Verkehrsberuhigung durch städtebauliche Maßnahmen, Ausbau der Öffis und bessere Radinfrastruktur. Die Überwachungskamera sei in Wahrheit nicht die nachhaltige Lösung für Verkehrsprobleme, sondern die schnelle und bequeme. 

Die Forderungen von Datenschützer:innen sind eindeutig: Österreich darf nicht zu einer Gesellschaft werden, in der der öffentliche Raum automatisch überwacht wird und in der politische Rechte nur noch vor ständig wachsamen Kameras ausgeübt werden können.

Die 36. StVO-Novelle ist kein harmloses Verwaltungsprojekt, sondern ein Gesetz, das mehr überwacht, als es schützt. Es gefährdet Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit, die für eine lebendige Demokratie unverzichtbar sind. Verkehrsberuhigung darf nicht der Deckmantel sein, unter dem ein Überwachungsstaat entsteht. 

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