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Ungleichheit
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Zu sehr der neoliberalen Propaganda geglaubt: Was lief falsch bei der EU-Impfstoffbeschaffung?

Zuviel Vertrauen in die ungelenkte Marktwirtschaft macht krank. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Europa ist hinten nach beim Impfen. Das ist kein Zufall, denn es wurden Fehler gemacht. 

Europa hat einen Rückstand. Zumindest mehrere Wochen ist man hinter den USA, während Großbritannien, Chile, die Vereinigten Arabischen Emirate und Israel davoneilen. Der Staat im Nahen Osten ist sogar schon bald fertig mit seiner Impfkampagne. Die herbeigesehnte Öffnung der Wirtschaft und des Freizeitlebens ist in vollem Gang. Die Infektionszahlen sinken, Covid-Stationen in Krankenhäusern werden aufgelöst. Die „Reproduktionsrate“ beträgt 0,6 und – vorausgesetzt, sie bleibt so niedrig – das Virus wird langsam zur Randerscheinung. 

Das ist ungewohnt für den europäischen Kontinent, der als einer der drei großen Wirtschaftsblöcke – China, USA, und EU – eigentlich auf mehr Tempo gehofft hätte. Zumal sich die allermeisten bedeutenden Firmen, die Teile und Biomassen für die Impfstoffe herstellen, nur in Europa und den USA befinden.   

Der bezahlte Preis ist nicht das Problem

Wirtschaftsliberale deutsche Ökonomen haben der EU und Deutschland daher vorgeworfen, sie hätten nicht genug bezahlt und nicht früh genug bestellt. Ihre (wenig überraschend) unternehmerfreundliche Lösung: Sonderzahlungen an Pharmafirmen für frühere Lieferungen.  

Dass es aber ganz woanders hakt, das belegen mittlerweile Zahlen der EU-Kommission und Recherchen engagierter JournalistInnen

Die EU und ihre Mitgliedstaaten – inklusive Österreich in führender Rolle – haben Impfstoffe bestellt wie ein Unternehmen. „Schließen wir einen Vertrag und warten auf die Lieferung, die Marktwirtschaft mit fähigen Konzernen wird das schon richten“. Ganz im Gegensatz zur EU wissen die USA ganz genau, wann man die eigene Propaganda nicht mehr glauben soll. Wann es genug mit dem Gerede von Eigenverantwortung, Freiheit, vom Tellerwäscher zu Millionär mit dem American Dream ist, und man stattdessen auf die Kraft des Staates setzen sollte. Die Regierung der USA waren ein aktiver, gestaltender Partner, der die Impfstoffhersteller von Beginn an mit der „Operation Warp Speed“ kräftig mit Geld und Organisationsunterstützung förderte. Doch sie forderten sie auch. Und nicht zu wenig. 

Nationale Lieferketten

Den amerikanischen Konzernchefs war klar, dass es eine rein amerikanische Lieferkette geben müsse, Selbstversorgung inklusive. Als Trump klar wurde, dass er Biontech nicht kaufen kann, kam trotzdem ein amerikanischer Konzern (Pfizer) als Partner zum Zug. Ein Fehler aus Sicht der Europäer, die damit Teile der Kontrolle in die USA transferierten. Denn Impfstoffe herstellen kann Europa auch.

Impfvorreiter Großbritannien machte diesen Fehler nicht. Als sich die Universität Oxford mit ihrem Impfstoff mit einer nicht-britischen Firma zusammentun wollte, um die klinischen Studien zu finanzieren und die Herstellung zu organisieren, sagt der britische Gesundheitsstaatssekretär einfach nein. Er zwang die Universität, mit dem britisch-schwedischen Hersteller AstraZeneca zusammen zu gehen und die Produktionsanlagen im Heimatland aufzubauen.   

Die USA gingen genauso wie Großbritannien aber noch weiter. Amerika und Großbritannien setzten ein Exportverbot in Kraft. Außerdem hielten die Verträge der Regierungen mit den Pharmafirmen eine bevorzugte Lieferung ins eigene Staatsgebiet fest. America first bzw. UK first, lautete die Devise.  

Naive Europäer

Die naiven Europäer stellten nicht sicher, dass vorhandene europäische Lieferketten jedenfalls ausreichend Impfstoff für Europa produzierten. Sie erlaubten, dass sich die deutsche Firma Biontech mit einem amerikanischen Konzern zusammenschloss, anstatt mit einem europäischen Hersteller. Die Europäer vergaßen, dass alle anderen ihre nationalistischen Ansätze radikal verfolgen würden.  

Schmerzlich vermisst wurde in der EU auch ein Äquivalent zum kriegswirtschaftlichen „Defense Production Act“. Damit kann der amerikanische Präsident Unternehmen anweisen, was sie produzieren müssen. Dieses gesetzliche Durchgriffsrecht fehlt in Europa bis heute. In der EU gibt es aktuell noch nicht einmal einen offensichtlichen Weg, um neben Astra-Zeneca– auch Pfizer-Dosen zurückhalten zu können.  

Stattdessen wurde Europa zum Lieferanten der Welt. Israel, Kanada, Mexiko. Keineswegs arme, auf Hilfe angewiesen Länder und enge Verbündete der USA, die aber nicht von Amerika beliefert werden, sondern aus europäischen Werken. Die europäische Lieferkette – getrennt von der amerikanischen im Fall von Pfizer – beliefert die Welt. 42 Millionen Dosen wurden exportiert. Impfstoff, den die EU gut gebrauchen hätte können, wie der Impfrückstand zu USA und Großbritannien dokumentiert. 

Mit Impf-Freihandel ins Hintertreffen

Dieser europäische Impf-Freihandel ist dabei nicht einmal besonders solidarisch: es kommen einfach zahlungskräftigere und -willigere Länder zuerst zum Zug. Für eine Verteilung nach regionalen und sozialen Bedürfnislagen bleibt bei dieser Strategie kein Impfstoff mehr übrig.

Natürlich kann man jetzt behaupten, die EU hätte mehr oder früher bestellen müssen. Da ist sicher auch etwas dran. Doch die USA oder Großbritannien haben sich auf dieses marktwirtschaftliche Wettrennen gar nicht eingelassen, sondern die Spielregeln staatlich selbst gesetzt.  

Die eigene Propaganda geglaubt

Noch vor kurzem erklärten uns wirtschaftsliberale Ökonomen, wie wichtig Milliardäre für die Entwicklung des Impfstoffes doch sein – und dass man den ausländischen Pharmafirmen jetzt noch mehr bezahlen solle. Wer die eigene Propaganda von den Früchten des unregulierten Marktes glaubt, verliert.  

Vergessen hat die EU, dass eine unregulierte Marktwirtschaft so gut wie niemals das beste Ergebnis für BürgerInnen und VerbraucherInnen bringt. Staatliche Lenkung, Kontrolle, Begleitung und Finanzierung ist für den Erfolg zwingend notwendig oder zumindest ein unvermeidbares Übel – je nach ideologischer Position. Das gilt auch für die Impfstoffherstellung, wie gerade nur allzu deutlich wird.  

Doch es gilt genauso für unser Leben nach der Pandemie. Erderhitzung, Arbeitsplätze, die Pflege und Gesundheit einer alternden Gesellschaft. All diese Probleme lassen sich nicht ohne staatliche Lenkung lösen, wenn Lösungen dafür allen zugutekommen sollen. Und nicht nur den Wenigen, die es sich leisten können. 

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