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Gesundheit

Eine Angehörige erzählt nach Suizid ihres Partners: "Sie hätten sich besser kümmern müssen"

Suizid_Was_ich_wirklich_denke. Eine Frau hält die Hand einer anderen Frau.
Johanna ist Anfang 30. Zehn Jahre hat sie den Kampf ihres Partners gegen die Depression hautnah miterlebt - bis er sich vor kurzem das Leben nahm. Auch wenn sie niemanden ausschließlich für das Ableben ihres Lebensgefährten verantwortlich machen möchte: Vom Gesundheitssystem fühlte sie sich oft im Stich gelassen.

Triggerwarnung: Im folgenden Text wird über die Depressionen und den Suizid eines Menschen gesprochen. Wenn es dir gerade nicht gut geht oder du damit nicht gut umgehen kannst, lies ihn bitte nicht. Falls du von Depressionen oder Suizidgedanken betroffen bist, gibt es Hilfe. Am Ende des Textes findest du Kontaktmöglichkeiten, Nummern und Adressen von Beratungsstellen.

Ich habe Martin* 2012 kennengelernt, er war fünf Jahre älter als ich. Martin war ein sehr geselliger und einfühlsamer Mensch, er hatte einen großen und intakten Freundeskreis. Wir hatten sehr viel Spaß gemeinsam, anfangs habe ich seine Depressionen gar nicht wahrgenommen. Bei vielen Menschen ist man ja oft überrascht, wenn man erfährt, dass sie unter Depressionen leiden. Martin war einer davon.

Im Verlauf unserer Beziehung erfuhr ich mehr über Martins schwierige Kindheit und Jugend. Er wuchs teilweise bei Pflegefamilien auf, weil sich seine leiblichen Eltern nicht um ihn kümmern konnten. Als Teenager zog er dennoch zu seiner Mutter, die von da an zum Anker in seinem Leben wurde. Sie nahm sich allerdings das Leben, als er 18 Jahre alt war. Martin fand seine eigene Mutter tot in der Wohnung auf. Er trug ein schweres Trauma davon.

Lange Zeit machte sich das allerdings kaum bemerkbar. Erst als wir schon fünf Jahre zusammen waren, kam die erste Krise, die wir gemeinsam durchmachten. Martin fiel in ein tiefes Loch, war suizidal und kam in die geschlossene Psychiatrie. Die Zeit dort war schrecklich für ihn, er verbrachte sie gemeinsam mit Menschen, die unter anderen schweren psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie litten. Damit konnte er nur schwer umgehen, weil er sehr sensibel auf seine Umwelt reagierte und von den Patient:innen überfordert war. Wir haben ihn da so schnell wie möglich wieder rausgeholt, er kam dann auf die offene Station.

Psychotherapie: Auf einen Kassenplatz hätte Martin ewig warten müssen

Nach dem ersten Aufenthalt ging es Martin sehr schlecht, er bekam Medikamente und nahm viel Gewicht zu. Hinzu kam, dass ihm zu dieser Zeit das Geld vom AMS gestrichen wurde. Ein halbes Jahr später kam es zu seinem ersten Suizidversuch in unserer gemeinsamen Zeit. Nach einem weiteren Psychiatrieaufenthalt wollte Martin zur Psychotherapie, musste allerdings ewig auf einen Kassenplatz warten. Eine Therapie aus eigener Tasche konnten wir uns nicht leisten – immerhin verdienten wir als Paar damals nur rund 1000 Euro.

Es folgte noch ein weiterer Klinikaufenthalt mit anschließender Reha, 2019 war das. Neben den langen Wartezeiten und der ständigen Geldnot sorgte auch Martins Verdrängen der Depressionen dafür, dass er sich danach nie mit einer Psychotherapie auskurieren konnte. Er wollte seine Krankheit einfach nicht wahrhaben. 

Stattdessen kompensierte er seine Probleme mit viel Arbeit. Er machte eine erfolgreiche Ausbildung auf zweitem Berufsweg. Er liebte diese Arbeit, ließ sich aber, hingebungsvoll wie er war, oft ausnutzen. Das brach ihm oft das Herz, trotzdem ging es ihm phasenweise auch immer wieder ganz gut. Gerade das ist das Trügerische an Depressionen.

„Ich hätte mir ein besseres Entlassungsmanagement gewünscht“

Doch gerade in den letzten zwei Jahren verschlimmerte sich seine Situation immer wieder. Er hat sich auch zunehmend zurückgezogen und den Kontakt zu seinen Freund*innen abgebrochen. Vor allem, nachdem wir vor rund 9 Monaten ein Kind bekommen hatten. Er erzählte mir, er habe große Selbstzweifel, dass er ein guter Vater sein könne. Er fühlte sich auch zunehmend einsam. Natürlich wurde es für mich auch schwer, mit seinen Phasen umzugehen. Ich hatte oft das Gefühl, machtlos zu sein. Angehörige von Menschen mit Depressionen wissen, wovon ich rede.

Vor zwei Monaten hat sich Martin nach einem langen Kampf das Leben genommen. Er wollte es eigentlich immer schaffen, konnte aber einfach keine Strategie entwickeln, wie er mit seinen Depressionen umgehen sollte. Ich möchte heute keine Person oder eine bestimmte Einrichtung für seine Entscheidung beschuldigen, das wäre nicht fair und wird auch nicht seiner komplexen Geschichte gerecht. Dennoch glaube ich, dass unser Gesundheitssystem Martin den Kampf zumindest hätte erleichtern können.

Dazu fällt mir das Entlassungsmanagement in den psychiatrischen Einrichtungen ein: Martin bekam nach seinen vier Aufenthalten immer nur einen Rezeptzettel und die Empfehlung, eine Psychotherapie zu machen. Dann war er wieder auf sich allein gestellt. Dabei ist es gerade für Menschen mit Depressionen schwierig, nach einem Klinikaufenthalt wieder Fuß zu fassen. Martin hatte oft keine Kraft, etliche Gespräche mit Psycholog:innen und Psychiater:innen zu führen. Jedes Mal musste er seine Leidensgeschichte von vorne erzählen und die Wunden wieder aufreißen. Er wollte einfach nur „normal“ sein. Es hätte eine psychosoziale Fachkraft gebraucht, die dabei unterstützt, Vertrauen gegenüber der Therapie aufzubauen. Stattdessen verfiel er zu schnell wieder dem Alltag. [Anmerkung der Redaktion: In solchen Fällen findest du Hilfe bei folgenden Stellen.]

Ich wünsche mir, dass sich die verantwortlichen Institutionen mehr um “die Zeit danach” kümmern. Dass bereits für ein halbes oder gar ein Jahr im Voraus Psychotherapie vereinbart wird und Anschlusstermine mit Ärzt:innen abgemacht werden. Damit ein Fangnetz entsteht, das Betroffene nicht im Regen stehen lässt, etwas, aus dem sie Vertrauen schöpfen können. Ich wünsche mir, dass Menschen wie Martin nicht monatelang auf einen Termin bei Kassenärzt:innen warten müssen. Wahlärzt:innen waren für ihn oft zu teuer.  [Anmerkung der Redaktion: Therapeut*innen unter Supervision bieten vergünstigte Psychotherapie an. Angebote findest du hier.]

Ich möchte Martins Geschichte offen und ehrlich erzählen. Sie endete leider tragisch und lässt mich als Partnerin mit meinem Sohn zurück. Das ist ein Schicksal, das ich niemandem wünsche. Wenn wir Depressionen als Gesellschaft und in der Politik genauso ernst nehmen würden, wie wir das mit Krebs tun, können wir mehr dagegen ausrichten. Martin hätte mehr Achtsamkeit im Zuge seiner Krankheit verdient – denn er war ein großartiger Mensch.

*Name von der Redaktion geändert.

 

Falls du dich selbst in einer Krise befindest, findest du hier professionelle Hilfe:

  • Für Betroffene: kriseninterventionszentrum.at
  • Für Angehörige: www.suizidpraevention.at und www.agus-selbsthilfe.de
  • Psychiatrische Soforthilfe: 01/313 30 (0 bis 24 Uhr)
  • Kriseninterventionszentrum: 01/406 95 95 (Montag bis Freitag von 10 bis 17 Uhr erreichbar)
  • Rat und Hilfe bei Suizidgefahr: 0810/97 71 55
  • Sozialpsychiatrischer Notdienst: 01/310 87 79
  • Telefonseelsorge: 142 (von 0 bis 24 Uhr erreichbar)
  • Rat auf Draht: 147 (für Kinder und Jugendliche, von 0 bis 24 Uhr erreichbar)
  • Sorgentelefon für Kinder, Jugendliche und Erwachsene: 0800/20 14 40 (Montag bis Samstag von 14 bis 18 Uhr)
  • Männernotruf Steiermark: 0800 246 247

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