2-Klassen-Medizin in Österreich in 5 Grafiken erklärt
Eine junge Frau muss am Knie operiert werden. Sie wartet 11 Monate auf einen Termin. Als auch das zweite Knie unters Messer muss, geht sie sofort zu einem Privatarzt – da wartet sie nur 4 Wochen.
Wenn sie der Privatarzt zu 100 Prozent auf eigene Kosten in einem privaten Operationssaal operieren würde, so wäre das ja OK. Doch das wäre enorm teuer und könnte sich kaum jemand leisten. Ärzte lassen sich daher für eine “Untersuchung” bezahlen – und reihen ihre Patienten dann im öffentlichen Spital, in dem sie ebenfalls arbeiten, bei der OP-Warteliste nach vorne. Oder sie gehen nicht einmal diesen “Umweg”, sondern verlangen einfach Geld auf die Hand für eine Verkürzung der Wartezeit. Das ist nicht nur unmoralisch, sondern streng verboten. Aber es passiert. Regelmäßig.
Eine aktuelle Studie des Instituts für Höhere Studien belegt, dass solche Korruption im österreichischen Gesundheitssystem System hat. Außerdem variieren die Wartelisten auf planbare Operationen in Österreich in absurdem Ausmaß – und Ärzte machen mit der Verzweiflung jener Patienten ein Geschäft, die das Pech haben, außergewöhnlich lange warten zu müssen.
Doch das sind nicht die einzigen Daten, die zeigen, dass sich das österreichische Gesundheitssystem immer mehr in Richtung 2-Klassen-Medizin entwickelt. Wir haben hier sechs Grafiken zusammengestellt.
Zusatzversichert – und besser gestellt
Wer eine private Krankenversicherung hat, darf bei OP-Terminen vorgereiht werden, kommt früher dran und wird einfach besser behandelt? Falsch. Diese Meinung ist zwar laut Umfragen unter Österreichern weit verbreitet. Aber mit einer Zusatzversicherung wird nur eine so genannte Hotelkomponente erworben. Sprich: Mehr Luxus im Spital, etwa durch ein Einzelbett. Darüber hinaus besteht auch das Recht auf eine freie Arztwahl. Doch die Wartezeiten auf planbare OP-Termine dürfen nur nach streng medizinischen Parametern vergeben werden. Das Krankenversicherungssystem in Österreich sieht diesbezüglich keine Vorteile für privatversicherte Patientinnen und Patienten vor.
Doch zahlreiche Fallbeispiele, die Moment recherchiert hat, beweisen – wer zusatzversichert ist, kommt früher dran und wird besser behandelt.
Eine Mutter erzählt: “Meine Tochter hatte im Laufe von zwölf Monaten sechs Mal eine Angina. Und es war klar, dass ihre Mandeln raus müssen. Das war Ende Mai. Der nächste freie OP-Termin wäre jedoch erst im nächsten Jahr im März gewesen.” Als die Mutter erklärte, sie hätte eine Zusatzversicherung, war jedoch schlagartig ein Wunschkonzert angesagt. “Meine Tochter wurde dann nach meinem Wunschtermin im September operiert.”
Auch eine Krankenpflegerin erzählt uns: “Ich arbeite seit 15 Jahre in dem Job und erlebe es tagtäglich. Zuweisung vom Kassenarzt: Die Wartezeit beträgt Wochen oder Monate. Zuweisung vom Wahlarzt: Wartezeit beträgt ein paar Tage bis Wochen. Sonderklassepatienten kommen im Spital früher dran und bekommen auch mehr ärztliche Zuwendung. Ausgenommen sind aber immer Notfälle.”
Kein Wunder, dass sich also in der Bevölkerung immer mehr die Meinung vorherrscht, eine Zusatzversicherung garantiert eine bessere medizinische Versorgung.
Jedenfalls misstrauen immer mehr ÖsterreicherInnen dem öffentlichen Gesundheitssystem und versichern sich privat dazu.
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Ärzte entfliehen dem öffentlichen System
Doch nicht nur die Patienten flüchten in die Privatmedizin. Auch immer mehr Ärzte wollen keinen Kassenvertrag mehr. Eine Spitalsärztin, die halbtags arbeitet und manchmal eine Kollegin in deren Kassenordination für Allgemeinmedizin vertritt, erzählt: “Auch wir Ärzte wollen uns ausreichend Zeit für unsere Patienten nehmen! Aber wenn du heute eine Praxis hast und über die Runden kommen willst, dann hast du rund 1.000 Patienten im Quartal. Einfach nur um deine Fixkosten zu decken, reich wirst du da nicht.” Pro Krankenschein kann ein Vertragsarzt im Quartal Pauschal 18,74 Euro abrechnen – erst wenn der Patient ein drittes Mal im Quartal kommt, gibt es mehr Geld. Ein Allgemeinmediziner hat in der Schnitt 20 Stunden in der Woche für die Patienten geöffnet, da auch viel Zeit für Bürokratisches verwendet werden muss. “Wenn ich also vier Stunden geöffnet habe, sehe ich in dieser Zeit mindestens 35 Patienten,” so die Ärztin. Sie findet, dass es entweder die Tarife erhöht werden müssten, damit Kassenärzte mehr als nur “Drehtürmedizin” bieten können, oder überhaupt der Zeitaufwand pro Patient individuell berechnet werden muss.
Jedenfalls wollen immer weniger Ärzte einen Kassenvertrag und werden Wahlärzte. Bei einem Wahlarzt hat der Patient einen Selbstbehalt von zwanzig Prozent. Während es immer mehr Wahlärzte gibt, stagnieren die Zahlen der Ärzte mit Kassenvertrag.
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Die Bevölkerung in Österreich wächst aber stetig – es müsste also mehr Kassenstellen geben. Doch immer weniger Stellen können überhaupt besetzt werden. In ganz Österreich fehlen 95 Allgemeinmediziner und 62 Fachärzte. Vor allem in der Frauen- und Kinderheilkunde fehlt es an Kassenärzten. Der Grund: Gerade für Kinder und Schwangere müssen sich Ärzte und Ärztinnen Zeit nehmen. Und die wird eben nicht honoriert.
Im Jahr 2017 wurde der “Österreichische Strukturplan Gesundheit” erstellt. Hier wurde tatsächlich ausgerechnet, wie viele Allgemeinmediziner oder Fachärzte auf wie viele Menschen in der Bevölkerung kommen sollten. Derzeit kommt zum Beispiel ein Facharzt oder eine Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie auf 328.000 Einwohner. In Deutschland kommt ein solcher Facharzt auf 80.000 Einwohner. Derzeit wird sogar im Nachbarland diskutiert, ob der Schlüssel nicht auf einen Facharzt pro 40.000 Einwohner gesenkt werden sollte. Basierend auf dem österreichischen Strukturplan sieht die Versorgungslücke an Kassenärzten noch dramatischer aus.
Da sich im öffentlichen System immer größere Versorgungslücken auftun, sehen sich also immer mehr ÄrztInnen und PatientInnen dazu gezwungen, in die Privatmedizin auszuweichen. Das können sich aber wiederum nur Menschen mit gutem Einkommen leisten. Die 2-Klassen-Medizin ist also in Österreich schon längst Realität. Es muss sich dringend etwas ändern, damit sich diese nicht weiter manifestiert.