24-Stunden-Betreuung: 90 Tage arbeiten und kein Mal frei
Wer auf die Website der Firma Pflegefux GmbH surft, der fühlt sich möglicherweise an Werbung vom Lebensmitteldiscounter oder den Prospekt einer Autowerkstatt erinnert. Doch statt Fleisch zum Sonderpreis oder dem Kompletträderset mit Sommerreifen gibt es hier die Ware Mensch. „Covid-19 getestet: Wenige freie Betreuungskräfte verfügbar!“ heißt es da in einem rot unterlegten Balken am oberen Rand der Seite. „Jetzt schnell bei uns anfragen!“ steht darunter.
Die Pflegeagentur aus Gleisdorf in der Steiermark vermittelt 24-Stunden-BetreuerInnen aus Rumänien an Haushalte in Österreich, in denen pflegebedürftige Personen Hilfe benötigen. In der Anzeige vermittelt Pflegefux jedoch nicht den Eindruck zu wissen, dass es bei ihren 24-Stunden-BetreuerInnen um Menschen handelt. Sie bietet die Ware Arbeitskraft an, und davon gibt es jetzt Nachschub.
Vor einer Woche kam ein erster Sonderzug aus Rumänien in Wien-Schwechat an. An Bord waren 84 PersonenbetreuerInnen. Wochenlang verhandelten Österreich und Rumänien darum. Nach langem Hin und Her und vielen Hoppalas einigten sich beide Länder auf diese Lösung, MOMENT berichtete darüber. Inzwischen kam ein zweiter Zug an, am Montagabend soll ein dritter fahren.
Erster Zug fährt fast leer nach Rumänien
Und auch zurück nach Hause ging es für einige rumänische PersonenbetreuerInnen, die in Österreich arbeiten. Am Mittwochvormittag vergangener Woche kamen 41 von ihnen in einem Zug der ÖBB in der Großstadt Timisoara an. 350 Plätze hätte es gegeben. Warum war der Zug nur zu wenig mehr als zehn Prozent besetzt?
Ich will nach Hause fahren, aber meine Agentur schickt keine Betreuerinnen mit dem Zug heim.
Gerne mitgefahren wäre die Personenbetreuerin Marina (Name geändert). Seit dem 18. Februar ist sie hier, arbeitet damit seit 90 Tagen, und das ununterbrochen. Keinen einzigen Tag habe sie frei gehabt, sagt sie zu MOMENT. Zwei Stunden Pause stehen ihr pro Tag zu, das muss reichen. „Ich will nach Hause fahren“, sagt sie. Aber sie dürfe nicht. „Meine Agentur schickt keine Frauen mit dem Zug.“
Gefragt, ob sie wüsste, wie lange sie noch bleiben muss und ob das vertraglich geregelt ist, antwortet sie: „Ich weiß es nicht, es gibt keine Vereinbarung.“ Vereinbart waren ursprünglich 28 Tage Arbeit in Österreich, inzwischen sind es dreimal so viele. Und wenn die Agentur Marina nicht nach Hause fahren lässt, dann bleibt sie hier.
„Der Grund, warum nur wenige KollegInnen abreisen, ist: Die Agentur weigert sich, eine Zugreservierung vorzunehmen“, sagt PersonenbetreuerIn Liana (Name geändert). Auch Flavia Matei von D.R.E.P.T pentru îngrijire, einer Plattform für rumänische 24-Stunden-BetreuerInnen, berichtet davon: Sie stehe in Kontakt mit einer weiteren Betreuerin, „die sich seit Wochen bei ihrer Agentur meldet, dass sie nach Hause möchte“, sagt sie zu MOMENT. „Das wird aber immer verschoben.“
Die Zugtickets buchen? Das muss selbstverständlich die Agentur machen.
Bei der Wirtschaftskammer waren 2019 exakt 61.989 selbständige PersonenbetreuerInnen registriert. In privaten Haushalten kümmern sie sich um pflegebedürftige Menschen. Die größte Gruppe, mehr als die Hälfte der 24-Stunden-BetreuerInnen, kommt aus Rumänien. Sie pendeln, meist in einem Rhythmus von vier Wochen. Weil wegen der Coronavirus-Pandemie europaweit die Grenzen dichtgemacht wurden, mussten sie hierbleiben und arbeiteten weiter.
Seit vergangenen Donnerstag fahren Züge, mit denen PersonenbetreuerInnen zurück nach Rumänien fahren könnten. Sie können als „Privatperson“ Plätze dafür buchen. Praktisch löst aber kaum eine PersonenbetreuerIn ihre Fahrkarte in die Heimat selbst. „Das muss selbstverständlich die Agentur machen. Dazu haben Betreuerinnen ja eine Agentur“, sagt Reinhard Rodlauer, Geschäftsführer von Rodlauer 24 Stunden Pflege und Betreuung mit Sitz in Wien.
Formal selbständig, aber eben nur formal
„Die Reservierung der Zugkarten ist sehr kompliziert“, sagt Flavia Matei. „Die Betreuerinnen schaffen das nicht allein.“ Damit seien sie auf ihre Agentur oder die Familie angewiesen, in deren Haushalt sie eine pflegebedürftige Person betreuen. „Das bildet wieder eine Abhängigkeit.“ Die ist auch unter Normalbedingungen schon groß: Die formal als selbständige Ein-Personen-Unternehmen in Österreich tätigen 24-Stunden-BetreuerInnen aus osteuropäischen Ländern sind eben nur formal selbständig.
Faktisch sind sie in hohem Maße abhängig von ihrer Agentur. Diese werben sie in ihrer Heimat an und vermitteln sie an einen Haushalt, in dem eine Person Pflege benötigt. Es ist ein florierendes Gewerbe: 826 Unternehmen waren 2019 in der „Organisation von Personenbetreuung“ tätig. Zahlen zu Umsätzen und Gewinnen der Branche gibt die Wirtschaftskammer allerdings seit 2015 schon nicht mehr heraus.
Bis dahin war die heutige Fachgruppe „Personenberatung und Personenbetreuung“ nur ein Teil der großen Gruppe der „Gewerblichen Dienstleister“. Auch das macht es schwer, konkrete Zahlen zu erhalten, wie viel Geld mit der 24-Stunden-Betreuung in Österreich umgesetzt wird.
Ohne das Okay der Agentur geht nichts
MOMENT kontaktierte ein Dutzend Pflegagenturen und wollte von ihnen wissen, wie sie mit PersonenbetreuerInnen umgehen, die wie Marina und Liana schon weit länger hier arbeiten als ihr Turnus eigentlich gedauert hätte. Die Agenturen der beiden Frauen beantworteten unsere Fragen nicht.
Die BetreuerInnen sind sich bewusst: Einfach weggehen kann ich nicht. Da muss die Agentur mitspielen.
Dafür meldete sich Günther Huber, Geschäftsführer der Pflegeagentur vitabene Huber GmbH & Co KG bei MOMENT. Seine Firma mit Stammsitz in Hollenstein an der Ybbs ist eines der führenden Unternehmen der Branche. „Es kommen immer wieder Anrufe von PersonenbetreuerInnen, die unbedingt nach Hause wollen“, sagt Huber.
Aber ganz so einfach sei es eben nicht. Die BetreuerInnen „sind sich schon bewusst: Einfach weggehen kann ich nicht. Da ist die Agentur jedenfalls in der Verantwortung, die Spiegelbetreuung zu organisieren.“ Spiegelbetreuung heißt: Will eine 24-Stunden-BetreuerIn nach Rumänien fahren, muss eine andere bereitstehen, die die Betreuung übernimmt. Das zu organisieren ist Sache der Agentur.
„Selbstverständlich fragen wir alle Betreuerinnen, ob sie nach Hause fahren möchten oder nicht“, so Reinhard Rodlauer. „Sagt eine Betreuerin, ja, sie möchte nach Hause fahren, dann organisieren wir den Wechsel.“ Das sei eine Entscheidung, „die einzig und allein bei der Betreuerin liegt“, so Rodlauer. Für andere Agenturen könne er aber nicht sprechen. Sein Eindruck sei, „dass die Betreuerinnen derzeit gerne zwei Monate bleiben“.
24-Stunden-Betreuerin: Loyalität wird nicht belohnt
Manche der befragten Agenturen lassen aber schon durchblicken, dass es für die PersonenbetreuerInnen eher schwierig wird, heimfahren zu können, so lange kein Ersatz da ist. Wonach entscheiden die Agenturen, welche BetreuerIn abgelöst wird und damit nachhause fahren darf?
„Wo wir jetzt den Eindruck haben, da spitzt sich die Situation zu, weil es wirklich ein schwieriger Betreuungsplatz ist oder private Umstände die Betreuungskraft nach Hause rufen, werden wir den Wechsel forcieren“, sagt vitabene-Geschäftsführer Huber. Jeweils rund zehn PersonenbetreuerInnen seiner Agentur wären in den zwei Transitzüge gesessen, die bisher von Wien nach Timisoara in Rumänien fuhren.
Am Dienstagabend soll der nächste losfahren. „An die 20 BetreuerInnen“ von vitabene sollen darin Platz nehmen können. Für Hubers Firma arbeiten mehrere Hundert PersonenbetreuerInnen. Er betont: „Ich kenne keine BetreuerIn, die sagt: Ich bin jetzt weg! Da ist eine große Loyalität gegenüber den Patienten, die sie betreuen.“ Eine Loyalität, die nicht immer belohnt wird. Für 24-Stunden-BetreuerIn Marina kam es bisher nicht in Frage, ihren Patienten im Stich zu lassen. Jetzt habe sie die Aussicht, am 1. Juni mit einem Kleinbus heimzufahren, sagt sie.
Fahrpreis für manche „existenzbedrohend“
Auch einige Agenturen sind ganz und gar nicht glücklich damit, wie die Transitfahrten organisiert sind. Die Wirtschaftskammer hat die Reiseagentur Business Travel Unlimited damit beauftragt, die Fahrten abzuwickeln. Sie ruft 279 Euro pro Person für den Transfer von Rumänien nach Österreich auf. Davon sind 100 Euro Fahrtkosten mit dem ÖBB-Zug. Weitere 105 Euro kostet der Labortest auf Covid-19, dem sich die PersonenbetreuerInnen unterziehen müssen. Bis das Ergebnis da ist, verbringen sie um 74 Euro eine Nacht im NH Hotel in Wien-Schwechat.
Marcus Duschek ist Geschäftsführer der CURAVITA KG mit Sitz in Wien. Für sein Zwei-Mann-Unternehmen mit einer Vollzeitangestellten seien dieser vorab zu zahlende Betrag kaum zu stemmen, sagt er zu MOMENT. Für einen der demnächst fahrenden Züge will er 25 PersonnenbetreuerInnen anmelden. Auch mit dem Zug am morgigen Dienstag sollen einige 24-Stunden-BetreuerInnen anreisen, die für ihn arbeiten.
Er müsse dabei mit 10.000 Euro in Vorleistung gehen. Falls eine der BetreuerInnen die Fahrt doch nicht antreten kann, weil sie beispielsweise erkrankt ist, könne er das Ticket nicht stornieren. Ihn wundert, warum er dann auch von den Kosten für den dann nicht stattfindenen Test der 24-Stunden-BetreuerInnen auf das Coronavirus sowie das frei bleibende Zimmer im NH Hotel in Schwechat keinen Cent zurückerhalte. Für Duschek sei das „existenzbedrohend“.
In letzter Konsequenz müssen also die Betreuerinnen das bezahlen.
Was er von den Familien der zu betreuenden Personen an Organisationsgebühren erhält, „deckt niemals hunderte Reisen pro Monat ab“, sagt er und fügt an: „In letzter Konsequenz müssen also die Betreuerinnen das bezahlen“. Oder die Familien übernehmen es. Zwar kündigte die Wirtschaftskammer an, bei jedem Ticket nach Wien 100 Euro zuzuschießen. Aber: „Das steht nirgends in den Reisebedingungen und uns wurde auch nichts zugesagt“, sagt Duschek.
Er habe „den Eindruck, irgendwer verdient sich da ein Körberlgeld zulasten der 24-Stunden-Betreuerinnen.“ Was ihn besonders stört: Die von der Wirtschaftskammer und Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) ausgetüftelte Lösung werde „als großartige Leistung im Sinne der Überwindung des Pflegenotstands verkauft.“ Tatsächlich müssten die BetreuerInnen oder die Agenturen „ihren Kopf hinhalten mit existenzbedrohenden Zahlungsbedingungen“.
Sollte sich das eine Agentur nicht leisten können, wäre es besser, sie sperrt zu.
Reinhard Rodlauer kann dieses Lamento anderer Agenturen nicht verstehen. „Wenn die Fahrtkosten einmal höher sind, zum Beispiel wegen dieser Zugsreise, dann muss das halt die Agentur übernehmen“, sagt er. Und: „Sollte sich das eine Agentur nicht leisten können, wäre es besser, sie sperrt zu.“
Eine Kritik, die Marcus Duschek nicht stehen lassen möchte. Wenn eine andere Agentur „großzügig Mehrkosten übernimmt, wird sie wahrscheinlich schon vorher auch höhere Beiträge verrechnet haben“, vermutet er. GeschäftsführerInnen anderer Agenturen würden das „ja wohl nicht aus ihren Privatvermögen finanzieren“.
Die Chefin einer weiteren kleinen Agentur meldete sich bei MOMENT. Laut eigener Aussage hat sie rund 20 PersonenbetreuerInnen unter Vertrag. Sie möchte lieber anonym bleiben, denn sie „gehöre nicht zum System“. Das System, das seien die Platzhirsche der Branche. „Jetzt werden nur die Großen gefüttert“, sagt sie. Auch sie hätte 24-Stunden-BetreuerInnen aus Rumänien hierherbringen wollen.
Aber: „Wir haben zusammengerechnet, was das kostet und sind auf 500 Euro pro Person gekommen, inklusive Transport zum und vom Bahnhof. Das ist eigentlich nicht leistbar“, sagt sie. Deshalb seien in den ersten beiden Zügen auch nur insgesamt 170 BetreuerInnen hierhergefahren, freie Plätze gab es für 700 Personen. Noch viel weniger fuhren zurück nach Rumänien.
Laut CURAVITA-Chef Duschek liege das allerdings nicht daran, dass Pflegeagenturen ihre 24-Stunden-BetreuerInnen nicht in die Heimat fahren lassen. Sondern weil Rumänien ihnen bis zum Freitag vergangener Woche eine 14-tägige Quarantäne in einer staatlichen Einrichtung vorschrieb. Inzwischen können die BetreuerInnen die auch in den eigenen vier Wänden absolvieren, „und sofort werden die Züge gebucht“, sagt Duschek.
Zuhause nach 41 Stunden und 325 Euro Kosten
Die 24-Stunden-Betreuerin Liana hat es inzwischen geschafft, nach Rumänien zurückzufahren. Mit dem Zug ließ ihre Agentur sie nicht fahren. Sie stieg in einen der Minibusse, die jetzt über die österreich-ungarische Grenze fahren durften. Ungarn hat inzwischen seine rigiden Einreiseverbote für AusländerInnen etwas gelockert. 41 Stunden war Liana unterwegs.
Über die Grenze von Ungarn nach Rumänien ging es zu Fuß, von dort mit dem Taxi zum nächsten Bahnhof, von wo sie mit dem Zug in ihre Heimatregion fahren konnte. 325 Euro kostete das Ganze, von ihrer Pflegeagentur erhielt sie etwas über 100 Euro, den Rest zahlte sie. Die Fahrt mit dem extra von Österreich und Rumänien dafür bereit gestellten Transitzug hätte dagegen nur 100 Euro gekostet.
Die Transportunternehmen, mit denen die Agenturen zusammenarbeiten, bieten ihnen viele Vorteile.
Warum buchte ihre Agentur nicht einfach dort einen Platz für sie? Lianas Antwort sorgt für Stirnrunzeln: Agenturen verdienen nichts, wenn Pflegekräfte mit dem Zug abreisen“, schreibt sie per Textnachricht. „Die Minibus-Transportunternehmen, mit denen sie zusammenarbeiten, bieten ihnen viele Vorteile“, so Liana und fügt einen Smiley, das für „Psst, nicht verraten!“ steht.
Trotz der langen Fahrt, trotz der Kosten – nach der Ankunft ist Liana euphorisch. „Endlich zuhause“, schreibt sie und schickt ein Foto aus ihrer Wohnung, auf dem Tisch eine ungeöffnete Flasche Zweigelt aus der Wachau. Hier muss sie jetzt für 14 Tage in Heim-Quarantäne bleiben. Und bald fährt sie wieder nach Österreich.