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Demokratie

Die angekündigte „Fluchtwelle“ afghanischer Frauen, die nie kam

Die angekündigte „Fluchtwelle“ afghanischer Frauen, die nie kam
Foto: (C) M. Kandlbauer (Bearbeitung: MOMENT.at)
Wie der von Medien, Politik und irrlichternden Expert:innen beschworene Ansturm der afghanischen Frauen nach einem völlig normalen Urteil nie kam. Lukas Gahleitner-Gertz kommentiert.

Vor 8 Jahren veröffentlichte der Falter unter dem Titel „Ach wie schön ist Afghanistan“ eine Recherche zu dem umstrittenen Afghanistan-„Gutachter“ Karl Mahringer. Dessen länderkundliche Expertise wurde in vielen Asylverfahren als Grundlage hergenommen: Zusammengefasst führte Mahringer aus, dass die Versorgungslage in Afghanistan ganz gut sei. Sein „Gutachten“ war aber bestenfalls ein unwissenschaftlicher Reisebericht, der als Entscheidungshilfe untauglich war. Der „Gutachter“ wurde seines Amtes enthoben.

Afghanistan ist neben Syrien und der Ukraine das Hauptherkunftsland von nach Österreich geflüchteten Personen. Etwa 50.000 Afghan:innen haben in den letzten 10 Jahren Schutz erhalten. Das Land und seine Menschen dienen immer wieder als Projektionsfläche, um die sich in der öffentlichen Asyl-Diskussion Mythen bilden.

So auch vor einem Jahr:

Die „Afghaninnen“-Entscheidung des Europäischen Gerichtshof sorgte nicht für gewaltiges Rauschen im Blätterwald, sondern auch für irritierende Äußerungen der ehemaligen OGH-Präsidentin Irmgard Griss und des Dekans der Rechtswissenschaftlichen Universität Innsbruck, Walter Obwexer.

Griss rügte, dass nicht der Eindruck entstehen dürfe, dass Gerichte die irreguläre Migration begünstigen. Obwexer sah gar eine neue Fluchtbewegung nach Europa heraufdräuen: „Die Schlepper müssen nur noch schauen, dass sie Frauen aus Afghanistan in einen EU-Staat bringen.“ Das brachte den Kurier zu seiner Hauptschlagzeile: „EuGH-Urteil öffnet für alle Afghaninnen Tür in die EU“.

Ein unspektakuläres Urteil

Die Aufgabe des Europäischen Gerichtshofs ist es, sicherzustellen, dass das EU-Recht in allen Mitgliedstaaten gleich ausgelegt und angewendet wird. Daher wird er bei ungeklärten Fragen von den nationalen Gerichten angerufen und um Beantwortung der Fragen gebeten. Im konkreten Fall hat der österreichische Verwaltungsgerichtshof zwei Fragen gestellt:

Können die diskriminierenden Maßnahmen der Taliban Frauen gegenüber, wie unter anderem

  • das Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt,
  • Zwangsverheiratungen,
  • die Verpflichtung, den Körper vollständig zu bedecken und das Gesicht zu verhüllen,
  • die Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen und der Bewegungsfreiheit,
  • das Verbot oder die Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit,
  • die Verwehrung des Zugangs zu Bildung,
  • das Verbot, Sport auszuüben, und die
  • Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben, 

in ihrer Gesamtheit als Verfolgungshandlung eingestuft werden?

In der Folgefrage wurde der EuGH damit befasst, ob – wenn das Verhalten der Taliban Frauen gegenüber als Verfolgungshandlung eingestuft wird – in allen Asylverfahren afghanischer Frau alle konkreten Verfolgungshandlungen im Einzelfall erhoben werden müssen oder es ausreichend ist, das weibliche Geschlecht entsprechend zu berücksichtigen.

Wer sich auch nur ansatzweise mit der frauenverachtenden und -vernichtenden Politik der militant-islamistischen Terrorgruppe der Taliban auseinandergesetzt hat, war vom Urteil des EuGH wenig überrascht sein: Ja, die Maßnahmen der Taliban sind als Verfolgung zu werten und nein, die Staaten sind demnach nicht verpflichtet, in jedem Asylverfahren die genauen persönlichen Umstände und Verfolgungsgründe afghanischer Frauen im Einzelfall penibel zu erheben.

Skandalisierung durch „Expert:innen“

Der Europäische Gerichtshof sprach nur das Selbstverständliche aus. Noch mehr: Unter Anwendung logischer Denkgesetze ist eine andere Beantwortung eigentlich nicht vorstellbar. Das Urteil bestätigte zudem nur die schon seit Ende 2022/Anfang 2023 ohnehin bereits geübte Praxis in Schweden und Finnland. In diesen beiden Ländern und im sonst wegen seiner restriktiven Asylpolitik angehimmelten Dänemark erteilten die Behörden schon seit Jahren an afghanische Frauen ohne weitere Erhebungen den Asylstatus.

Das hinderte die befragten Expert:innen in Österreich nicht, migrationspanische Prophezeiungen auszustoßen. Der von der ÖVP gerne als Rechtsexperte herangezogene Obwexer verstieg sich sogar zur Behauptung, „dieses Urteil wird einen Pull-Effekt zur Folge haben.“ In Abschätzung dieser Konsequenzen dieser Rechtsprechung wäre seiner Meinung nach „der Gerichtshof gut beraten gewesen, die Konsequenzen stärker in den Blick zu nehmen.“

Die Zahlen zu den afghanischen Frauen

Der befürchtete Pull-Effekt entbehrte schon zum Aussagezeitpunkt (Oktober 2024) jeglicher empirischer Basis: Die Änderung der Behördenpraxis der skandinavischen Länder in Bezug auf die Schutzgewährung in Asylverfahren afghanischer Frauen hatte in diesen Ländern keinen Anstieg von Erstanträgen zur Folge.

Und auch die EUROSTAT-Daten zu den Asylanträgen von afghanischen Frauen im gesamten EU-Raum, in Österreich und in anderen ausgewählten Staaten zeigen keinen Antragsanstieg im vergangenen Jahr: Die Gesamtzahl der monatlichen Anträge afghanischer Frauen in ganz Europa ist stabil bei ca 2.000 Anträgen im Monat – wie vor der EuGH-Entscheidung.

In Afghanistan leben etwas über 20 Millionen Frauen. Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden 100.000 Asylerstanträge von afghanischen Frauen in der gesamten Europäischen Union gestellt – etwa 4.500 in Österreich, 2023 und 2024 waren es jährlich etwa 900. Seit der Veröffentlichung der EuGH-Entscheidung im Oktober 2024 waren es es bis Mitte 2024 ca 800 Asylerstanträge afghanischer Frauen. Auch hier ist kein Anstieg erkennbar.

Korrektur falscher Entscheidungen: Späte Gerechtigkeit

Es sind also nicht mehr afghanische Frauen nach Österreich oder in die EU gekommen, um Asylanträge zu stellen. Aber es kam zu einem Anstieg von Asylanträgen afghanischer Frauen: Wer hinschau erkennt aber sofort: dabei geht es um „Folgeanträge“.

Dabei handelt es sich um Frauen, die schon seit längerer Zeit in Österreich leben und denen fälschlicherweise von den österreichischen Behörden nur der wesentlich schlechtere subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist. Durch die Klarstellung des Europäischen Gerichtshofs ergab sich endlich die Möglichkeit, diese fehlerhaften Entscheidungen zu korrigieren.

Nach der Stellung von Folgeanträgen wurde den Frauen – spät, aber doch – der ihnen zustehende Asylstatus aufgrund der Verfolgung durch die Taliban zuerkannt.

Schaden ist angerichtet

Die Geschichte zum „Afghaninnen-Urteil“ folgt einem altbekannten Drehbuch der Migrationspanik: ein Urteil wird skandalisiert, empirische Daten ignoriert, Expert:innen kündigen von Fakten befreite Dinge außerhalb ihres Fachs an.

Medien wären gut beraten, Titelseiten aus der Vergangenheit von Zeit zu Zeit zu evaluieren: Was wurde aus den Prophezeiungen? Warum lagen die herangezogenen Expert:innen daneben?

Durch die Art der Berichterstattung wurde Schaden angerichtet. Ein Achselzucken ist hier genauso zu wenig wie die derzeitige meist teilnahmslose Beobachtung, während die österreichische Bundesregierung den frauenverachtenden Taliban-Terrorismus legitimiert.

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