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Arbeitswelt

Mythos 55%: Warum das Arbeitslosengeld in Österreich noch niedriger ist und was viele in die Armut führt

Für viele ein Schock: Das Arbeitslosengeld ist nicht 55% vom letzten Gehalt Foto: Andrea Piacquadio
Das Arbeitslosengeld in Österreich beträgt "55% des vergangenen Netto-Einkommens". Der Teufel steckt im Detail und macht die Zahl zu einem Mythos. Eine "Berichtigungsfrist" drückt das Geld mitunter auf deutlich weniger als 55% von dem, was du zuletzt verdient hast. Die Auswirkungen erhöhen die Armut in Österreich.

Wenn Klara* heute auf die Liste der Dinge schaut, die sie in den nächsten Monaten kaufen muss, fängt sie sofort zu rechnen an. Sie zählt die Preise von Kinderwagen und Babytrage, von Milchfläschchen und Wickelkommode zusammen – und dann zählt sie die Tage bis zur nächsten Auszahlung des Arbeitslosengeldes. Sie überlegt, welche Anschaffungen ihre Familie als Weihnachtsgeschenk übernehmen und von wie viel gebrauchte Babykleidung sie von befreundeten Müttern abstauben könnte. Die Zahlen surren durch ihren Kopf und Klara bleibt jedes Mal mit einem ängstlichen Gefühl zurück.

Als die 30-Jährige vor wenigen Monaten erstmals schwanger wurde, hatte sie gerade ihren Job verloren. Mit dem Arbeitslosengeld, das sie nun bezieht, kann die Wienerin gerade mal Miete und Energiekosten bezahlen. Und das, obwohl sie im vergangenen Jahr gar nicht so schlecht verdient hat. 
 

Die Berichtigungsfrist und ihre Auswirkungen

Das Problem ist die sogenannte “Berichtigungsfrist” – eine Regel, die in der heutigen Form seit drei Jahren gilt. In Österreich heißt es oft, das Arbeitslosengeld beträgt 55% des letzten Monatsgehalts. Das ist allerdings ein Mythos: Das jüngste Jahr eines Einkommens wird in die Berechnung des Arbeitslosengeldes nicht miteinbezogen. Wer im Dezember 2023 arbeitslos wird, dessen Arbeitslosengeld beträgt 55% des durchschnittlichen Netto-Einkommens – aber in der Regel von jenem, das diese Person zwischen Dezember 2021 bis November 2022 hatte. Die Beitragsmonate liegen also bis zu zwei Jahren zurück. Auch das ist ein Beitrag dazu, das das Arbeitslosengeld hierzulande meist unter der Armutsgrenze liegt.

Die Folgen dieser Berechnung können auch für viele Menschen drastisch sein, die anders als Klara den Job dazwischen gar nicht gewechselt haben. Das Momentum Institut hat das anhand eines Beispiels berechnet. Eine typische Angestellte in der chemischen Industrie, die jetzt im Dezember arbeitslos wird, verliert durch das Berichtigungsjahr beim Arbeitslosengeld 85€ im Monat. Es beträgt in der Realität nur noch 50% des tatsächlich letzten Nettogehalts – nicht 55%. (Die Rechnung unterscheidet sich zwischen Branchen – je nachdem wie die Löhne sich entwickelt haben und zu welchem Zeitpunkt sie angepasst wurden.)

Schlecht bezahlte Jobs rächen sich lange

Die Regel hat offensichtlich besonders brutale Auswirkungen in einem Fall wie dem von Klara. Wie kam sie in diese Situation? Sieben Jahre studiert Klara und hält sich neben der Ausbildung mit Teilzeitjobs über Wasser. Ihre Familie kann sich nur wenig finanzielle Unterstützung leisten. Mehrere Jahre lang arbeitet sie in schlecht bezahlten und befristeten Positionen an der Universität, bis ihr die Existenzsorgen auf die Psyche schlagen. Sie beschließt, der Karriere an der Hochschule den Rücken zuzukehren. Sie ist erleichtert, als sie den Vertrag in der Firma unterschreibt, die sie namentlich nicht nennen möchte. Ab da verdient sie nun jeden Monat 3000 Euro brutto.

Im nächsten Jahr arbeiten ihr Partner und sie beide Vollzeit. Sie haben genug Einkommen für eine große Altbauwohnung mit frisch sanierten Parkettböden, den jährlichen Urlaub ans Meer und herzhafte Brunches an freien Sonntagen. Ihr Leben ist gut eingespielt, erzählt Klara heute, beinahe schon langweilig. Irgendwann stellen die beiden fest, dass etwas fehlt: das erste Kind.

Als die Wienerin den zweiten Strich auf dem Schwangerschaftstest sieht, sieht ihre Welt bereits anders aus. Erst drei Wochen zuvor sitzt sie auf dem Lederstuhl vor ihrem Chef und kann es nicht glauben. Ohne Vorwarnung verweist er auf schlechte Zahlen und kündigt Klara. In den folgenden Wochen ist Klara wütend, verletzt, ängstlich. Sie hat doch stets mit bestem Gewissen gearbeitet, Überstunden gemacht, sich in Sicherheit gewogen, dass die Firma ihre Arbeit schätzen und brauchen würde. 

Sie beruhigt sich damit, dass sie im letzten Jahr doch zumindest so gut verdient hat, dass sie das Arbeitslosengeld bis zu ihrem Karenzantritt absichern würde. Ein paar geringfügige Gelegenheitsjobs würde sie annehmen, überlegt sie, möglicherweise auf das wenige Ersparte zurückgreifen, das sie im letzten Jahr angelegt hat. Als sie drei Monate später die erste Auszahlung von rund 700 Euro auf ihrem Konto sieht, ist Klara sich sicher, das Arbeitsmarktservice (AMS) habe einen Fehler gemacht. Doch dem ist nicht so.
 

Das Einkommen des letzten Jahres zählt nicht

Seit 2019 müssen Dienstgeber:innen monatliche Sozialversicherungsbeiträge einzahlen, die ihren Angestellten im Falle einer Arbeitslosigkeit zugute kommen. Diese Zahlungen können von den Unternehmen anschließend innerhalb von einem Jahr berichtigt werden. Damit etwaige Lohnschwankungen oder kurzfristige Erhöhungen ausgefiltert werden können, wird dieses Berichtigungsjahr seit 2020 aus der Berechnung des Arbeitslosengeldes ausgegliedert.

Die Berichtigungsfrist ist kein neues Thema, erklärt Silvia Hofbauer, die den Bereich Arbeitsmarkt und Integration der Arbeiterkammer Wien leitet. Doch in Zeiten der Teuerung wird sie nun für viele dramatisch. Wird das Einkommen einer Person beispielsweise an die immer teurer werdenden Lebenshaltungskosten angepasst, wird das im Arbeitslosengeld nicht berücksichtigt. “Wenn sich jemand nun arbeitslos meldet, verliert er nun also doppelt”, so Hofbauer.
 

Arbeitslosengeld in Österreich besonders niedrig

Dabei war das Arbeitslosengeld in Österreich mit den “55 Prozent des vorherigen Einkommens” im europäischen Vergleich bereits zuvor niedrig. Bereits im Jahr 2021 lag das durchschnittliche Arbeitslosengeld und die durchschnittliche Notstandshilfe in Österreich unter der Armutsgefährdungsgrenze. Diese Gefährdung betrifft besonders Menschen, die über längere Zeiten hinweg keine neue Arbeit finden, so der Soziologe Jörg Flecker, der an der Universität Wien forscht. Vor allem Menschen über 55 Jahre und Personen mit psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen werden von Unternehmer:innen oft nicht angenommen, so Flecker – auch für schwangere Frauen wie Klara gilt das.

Als Klara von ihrem niedrigen Arbeitslosengeld erfährt, wendet sie sich an das Sozialamt. Doch die Hoffnung, ihre Sorgen könnten durch die Mindestsicherung erleichtert werden, stirbt schnell: Weil Klara gemeinsam mit ihrem Partner wohnt, hat sie auch hier nur Anspruch auf rund 790 Euro – “total absurd”, wie Klara sagt. Sie wird finanziell von ihrem Freund abhängig gemacht.
 

Gegen weniger Arbeitende wird Stimmung gemacht

Silvia Hofbauer und ihre Kolleg:innen hören bei der Beratung von Arbeitssuchenden momentan laufend davon, dass immer mehr Druck ausgeübt wird. Beispielsweise werden geringfügig Arbeitende nun gedrängt, einmal pro Monat ihre Vorgesetzten um eine Vollzeitstelle zu bitten. Immer wieder sind in den letzten Jahren politische Diskussionen rund um Kürzungen für Teilzeitarbeitende aufgekommen – und wird Wut gegenüber jungen Menschen geschürt, die zu vorherrschenden Bedingungen nicht mehr arbeiten möchten. “Es gab eigentlich immer schon eine Stimmung gegen Menschen, die andere Lebensstile pflegen. Das hat sich jetzt dadurch verschärft, dass einige Unternehmen unter Arbeitskräftemangel leiden. Jetzt greift man gezielt Leute an, die weniger oder nicht arbeiten”, erklärt Jörg Flecker. “Aber dadurch trifft man auch jene, die gar nicht anders können. Man weiß ja nicht, wer das freiwillig tut.”

Rund drei Monate hat Klara heute noch bis zum Geburtstermin ihres Kindes. Auf eine neue Anstellung kann sie bis dahin kaum hoffen, in rund einem Monat wird sie nämlich für den Mutterschutz freigestellt. Das monatliche Geld, das sie dann für die Versorgung des Kindes erhält, wird am Einkommen der drei Monate davor gemessen. Finanzielle Besserung ist für Klara also so schnell nicht in Sicht, die Sorge um das Geld beschäftigt sie jeden Tag. “Ich möchte die erste Zeit mit meinem Baby trotzdem genießen”, sagt sie. “Nach der Karenz kann ich mir dann endlich einen neuen Job suchen.”

*Name durch die Redaktion geändert

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    Kommentare 2 Kommentare
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  • Johannes
    10.04.2024
    "55% des vergangenen Netto-Einkommens" Inkl. SZ (13., 14.) oder exkl.?
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    • Sebastian Panny
      11.04.2024
      13. und 14. wird dabei berücksichtigt, also inklusive