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Gesundheit

Autismus: Warum Frauen oft übersehen werden

Autismus bei Frauen: Man sieht die Silhouette einer Frau
Um damit umgehen zu können, müssen Autist:innen über ihre Diagnose Bescheid wissen. Viele Frauen werden darüber aber im Dunklen gelassen.
Autismus wird bei Frauen wesentlich seltener diagnostiziert als bei Männern. Das liegt aber nicht unbedingt daran, dass Autismus bei Frauen so viel seltener vorkommt. Wie in vielen anderen Bereichen ist der Grund der, dass Männer der Standard sind. Bei Betroffenen kann das zu viel vermeidbaren Leid führen.

Stell dir vor, du sitzt spätnachts vor dem Computer. Du willst eigentlich unbedingt ins Bett gehen. Aber du kannst einfach nicht. Dein Kopf hält dich davon ab, aufzuhören. 

So geht es Ela B. (53). Wenn sie mit einer Aufgabe anfangen oder aufhören will, ist das schwierig für sie. Wird sie dabei unterbrochen, bringt sie das völlig aus dem Konzept. “Exekutive Dysfunktionen” nennt man das.

Sie ist außerdem extrem sensibel bei Geräuschen und Berührungen. Andererseits tut sie sich sehr schwer, körperliche Bedürfnisse, wie etwa Hunger, als Gefühl wahrzunehmen. Und wenn sie sich auf eine Sache konzentriert, blendet sie andere Wahrnehmungen komplett aus.

Ela ist Autistin. Sie ist seit 12 Jahren berufsunfähig. Ihr Problem ist aber nicht, dass sie Autistin ist – sondern, dass sie es so spät erfahren hat. Die Diagnose hat sie vor nicht einmal einem Jahr erhalten.

Was ist Autismus?

Ela ist eine von geschätzten 87.000 Menschen mit Autismus in Österreich. Ihre Diagnose fällt in eine Zeit, in der Autismus langsam mehr Aufmerksamkeit erhält. Dabei herrscht aber immer noch viel Unwissen. In der Popkultur wird Autismus häufig klischeehaft dargestellt. Das Bild von Autist:innen schwankt zwischen dem Genie mit sozialen Einschränkungen und Empathielosigkeit oder der bemitleidenswerten Person, die anderen das Leben erschwert. 

Auch als Schimpfwort wird das Wort gerne verwendet. “Du Autist” ist das neue “bist du behindert?” – und sollte genauso wenig verwendet werden. “Autist:innen sind nicht krank. Sie haben einfach ein anders entwickeltes Gehirn. Mein Autismus gehört zu mir, wie meine Augenfarbe”, sagt Ela. Auch die Diagnostikerin Sandra Graf vom Dachverband Österreichische Autistenhilfe betont: “Autismus ist eine Andersartigkeit der Wahrnehmung und der Informationsverarbeitung. Es ist keine Krankheit, die irgendwann geheilt wird. Autismus ist auch kein bloßer Charakterzug.” 

Es gibt genetische Komponenten, die zu Autismus führen können. Das bedeutet nicht, dass die Eltern Autist:innen sein müssen. Gleichzeitig gibt es Umweltfaktoren, die mit hineinspielen. Impfungen gehören definitiv nicht dazu, wie Graf im Gespräch betont und auch Studien bezeugen.

Grundsätzlich seien bei Autist:innen zwei große Bereiche betroffen, sagt Graf: “Einerseits alles, was mit sozialer Interaktion zusammenhängt, etwa verbale und nonverbale Kommunikation. Andererseits der Bereich der stereotypen Verhaltensweisen, etwa ein Fokus auf Routinen und Rituale, intensive Interessen und Besonderheiten in der sensorischen Wahrnehmung. Dass man zum Beispiel Hintergrundgeräusche nicht selektiern kann und alles ungefiltert auf einen einprasselt.”

Autismus: Große Unterschiede, eine Gemeinsamkeit

Wie einzelne Symptome ausgeprägt sind, ist dabei aber ganz unterschiedlich. Autismus zeigt sich in einer riesigen Bandbreite, wird daher in der Definition auch als “Autismus-Spektrum-Störung” bezeichnet. Sich auszudrücken fällt Ela etwa nicht schwer – ganz im Gegenteil. Sie kann im Gespräch sehr genau erklären, wie sie sich fühlt. 

Wenn sich Autismus so unterschiedlich äußert, haben Autist:innen dann eigentlich eine Gemeinsamkeit? “Der kleinste gemeinsame Nenner ist das Gefühl, auf einem falschen Planeten zu sein. Du siehst, wie andere zwischenmenschliche Regeln befolgen, die du nicht verstehst. Du versuchst, sie zu kopieren. Aber für dich ist das Regelbuch nicht zu entschlüsseln”, sagt Ela. Autist:innen könnten es vielfach nicht nachvollziehen, dass andere die Welt eben nicht so intensiv erleben würden.

Das Gefühl, falsch zu sein, hat Ela viel zu lange begleitet. Schon als Kind hat sie Schwierigkeiten, ihre Mutter interpretiert ihre Probleme als Ungehorsam – wie sonst sollte man sich das Verhalten eines sehr intelligenten Kindes erklären? Die schulische Leistung passt schließlich.

Autismus bei Frauen: Leidensdruck ohne Diagnose

Mit 30 Jahren erleidet sie den ersten Zusammenbruch. Die Diagnose lautet Depression. Es folgen Psychiatrieaufenthalte, weitere Zusammenbrüche. Die Diagnosen ändern sich, zwischendurch wird fälschlicherweise Borderline festgestellt, danach eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung. Sie deutet gegenüber einem Therapeuten vorsichtig an, dass sie doch vielleicht Autismus haben könnte. Er weist das energisch zurück. Auch andere versichern ihr immer wieder, dass sie keinen Autismus hat.

“Aufgrund von sozialer und sensorischer Überforderung geht Autismus sehr häufig mit Leidensdruck einher – und auch mit Krankheiten, die im Zusammenhang mit der Diagnose stehen, wie etwa Depressionen oder Angststörungen”, sagt Sandra Graf. Wie soll man aber mit diesen umgehen, wenn man nichts davon weiß? Menschen mit Autismus leiden stark darunter, nicht zu wissen, warum sie sich falsch fühlen. Frauen trifft das viel häufiger – denn sie erhalten ihre Diagnose wesentlich seltener als Männer.

Seit Beginn der Autismusforschung gab es ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Männer oder Buben wurden wesentlich häufiger mit Autismus diagnostiziert. Das Verhältnis lag zwischen 8:1 und 4:1. “Aktuell geht man von einem Verhältnis zwischen Männern und Frauen zu etwa 2:1 aus. Es gibt jedoch viele offene Fragen zu den Geschlechterunterschieden, beispielsweise die diagnostischen Instrumente, Unterschiede in der Vergesellschaftung und Sozialisierung sowie auch genetische Unterschiede betreffend,” so Graf. 

Wie merkt man Autismus bei Frauen?

Das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern hat mit der Geschichte der Autismusforschung zu tun. Die ersten Untersuchungen zu Autismus wurden nur an Buben durchgeführt. “Es entstand ein männlich geprägtes Bild von Autismus. Man hat sich in ersten Studien zu dem Thema vorwiegend Jungen und Männer angesehen, deren Symptome erfasst und in Folge dessen diagnostische Instrumente entwickelt. Diese werden zum Teil immer noch angewandt. Die teilweise etwas andere und unter Umständen subtilere Symptomatik von Mädchen und Frauen wird dann eventuell nicht erfasst”, sagt Graf. Dass der männliche Standard das Leben von Frauen beeinträchtigt oder sogar gefährdet, ist auch für viele andere Bereiche gut dokumentiert.

Die Symptome seien bei Frauen und Mädchen häufig subtiler, so Graf. Mädchen, die sehr gerne lesen oder sich für Tiere interessieren, würden eben nicht so auffallen. Das zurückgezogene, in sich gekehrte werde automatisch eher mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht.

Zudem gebe es Hinweise darauf, dass Frauen und Mädchen besser im Maskieren sind, also im bewussten Anpassen an die Umgebung. Und schließlich spiele auch die Erziehung eine Rolle. Bei Mädchen werde mehr darauf geachtet, dass sie einfühlsam sind. So würden autistische Mädchen von anderen öfter an der Hand genommen und mitgezogen.

Autismus als Erleichterung

Ela musste 52 Jahre darauf warten, dass Autismus bei ihr festgestellt wird. Die Diagnose war eine ungemeine Erleichterung. “Ich weiß jetzt, dass ich nicht faul bin. Ich habe mich ja auch immer bemüht. Ich habe einfach nur autistische Probleme”, sagt sie. Ähnliche Reaktionen sieht Sandra Graf auch bei anderen Betroffenen. “Die Menschen haben das Gefühl, dass sie sich zu wenig anstrengen, dass sie dumm oder unfähig sind. Sie glauben, dass sie sich das vielleicht nur einbilden. Sie geben sich selbst immer wieder die Schuld, strengen sich im Vergleich zu anderen jedoch viel mehr an, was scheinbare Kleinigkeiten betrifft: Der Besuch im Supermarkt, das Gespräch mit der Kollegin, das kurze Telefonat. Diese permanente Anstrengung führt zu einer sehr umfangreichen Erschöpfung.” 

Für Ela bedeutet die späte Diagnose aber auch viel verlorene Lebenszeit, die sie von niemandem mehr bekommt. Eine Zeit, die für sie mit sehr viel Leid verbunden war und in der sich andere psychische Probleme entwickelt haben. Ohne Diagnose gibt es keine Möglichkeit, mit den eigenen Verhaltensweisen umzugehen. Das führt wieder zu ganz eigenen Problemen. “Du musst all die Dinge, wie etwa die posttraumatische Belastungsstörung, wie bei einer Zwiebel abschälen, damit du überhaupt schauen kannst, wo der Autist versteckt ist”, sagt sie. 

Was wäre gewesen, wenn sie die Diagnose früher erhalten hätte? Die Frage erfüllt Ela heute noch mit Zorn und Verzweiflung. Speziell als Erwachsene gab es immer wieder die Möglichkeit, ihren Autismus festzustellen. “Ich hätte vielleicht die Chance auf eine Partnerschaft gehabt. Die Chance, den Menschen um mich herum viel Leid zu ersparen und viel früher ein lebenswertes Leben zu führen”, sagt sie. Dieses lebenswerte Leben kann sie jetzt endlich führen. Seit der Diagnose gehe es ihr so gut wie nie zuvor in ihrem Leben.

Autismus-Diagnose bei Erwachsenen

Zur ohnehin schon seltener gestellten Diagnose bei Frauen und Mädchen kommt hinzu, dass sie bei erwachsenen Menschen noch schwieriger ist. So eine Diagnose setze laut Graf Fachwissen voraus. Denn es gebe einerseits autismusspezifische Symptome, andererseits aber auch oft eine sehr gut ausgeprägte Intelligenz. Autist:innen würden sich viele Verhaltensweisen selbst antrainieren und damit für eine gewisse Zeit nach außen hin wenig auffallen. “Man muss wissen, welche Fragen man stellt und nicht nur nach dem Verhalten alleine urteilen. Dass mir die Person in die Augen schaut, ist kein Beleg dafür, dass sie keine Autistin ist. Man muss fragen, wie es zu dem Blickkontakt kommt, ob er anstrengend, unangenehm, vielleicht sogar schmerzhaft für die Person oder auch angelernt ist. Ganz oft kommt als Antwort: ‘Ich bin vor dem Spiegel gesessen, habe mir das antrainiert und es ist wahnsinnig anstrengend.”

Der Weg zur Diagnose ist auch mit anderen Hürden verbunden. So ist die Versorgungslage in Österreich nicht die beste. Beim Dachverband Österreichische Autistenhilfe wird eine Diagnose zwar von der Krankenkasse bezahlt, man müsse aber einige Monate auf einen Termin warten, so Graf. Das sei auch bei anderen öffentlichen Stellen so. Man könne zwar auch eine private Diagnostik in Anspruch nehmen, doch das koste eben Geld – und Spezialist:innen für Autismus bei Erwachsenen seien schwierig zu finden.

Autismus ist nicht der Feind

Trotz mancher Einschränkungen will Ela ihren Autismus nicht missen: “Autismus wird zu oft als defizitär gesehen, dabei hat er für mich auch viele positive Seiten. Ich kann mich wahnsinnig gut konzentrieren. Ich brauche sehr wenig, um mich zu freuen. Ich bin extrem treu, habe einen starken Gerechtigkeitssinn und gehe offen auf fremde Menschen zu – auch das ist Teil meines Autismus.” Könnte sie eine Pille nehmen, die ihn sofort verschwinden lässt, würde sie diese verweigern.

“Das Problem ist ja oft nicht der Autismus, sondern die Schnittstelle zur Gesellschaft”, sagt Sandra Graf. Die Gesellschaft nehme sehr wenig Rücksicht auf Menschen mit Autismus: Der Zwang zum Großraumbüro oder auch laute Supermärkte sind alltägliche Dinge, die Autist:innen das Leben erschweren. “Hätten wir eine Gesellschaft, die auf ihre Ressourcen und Bedürfnisse besser abgestimmt wäre, ginge es den Menschen oft viel besser, auch mit ihrem Autismus.”

In einer Therapie gehe es deswegen auch nicht darum, den Autismus weniger zu machen. Es gehe darum, besser damit umgehen und es nach Außen kommunizieren zu können. 

Doch dazu muss man erst einmal wissen, womit man es zu tun hat. Für Ela ist der Tag, an dem sie ihre Diagnose erhalten hat, wie ein zweiter Geburtstag. Das Leid durch die späte Diagnose hat Ela dazu bewogen, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. “Wenn auch nur eine Frau dadurch früher zu ihrem autistischen Ich findet und früher anfangen kann, sie selbst zu sein, dann war zumindest ein Teil meines Leidensweges nicht umsonst.”
 

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