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Ungleichheit
Fortschritt

Barbara Kaufmann: “Ich will nicht ständig Pimmelträger als Hauptdarsteller”

Foto: Ivo Kaufmann
Bereits als Kind erfährt Barbara Kaufmann, wie wenig sie über das Leben ihrer Urgroßmutter weiß. Jetzt hat sich Kaufmann mit einem Film an ihre Vorfahrin angenähert. Im Interview erzählt sie, warum es mehr Geschichten von “normalen” Menschen braucht – und warum es nicht immer Männer sein müssen.

In “Juli” erzählt die Autorin und Filmemacherin Barbara Kaufmann nicht nur die Geschichte ihrer Urgroßmutter, sondern die von vielen Frauen in ihrer Familie. Der Film ist eine Reise durch weibliche Lebensgeschichten von der Monarchie über den Ersten Weltkrieg und die Zwischenkriegszeit, bis hin zum Nationalsozialismus. 

Eine gewöhnliche Nacherzählung ihrer Familiengeschichte ist es aber nicht. Im Film nähert sich Kaufmann an die Lebensgeschichten ihrer Vorfahrinnen über Interviews mit anderen Frauen an, die biografische Ähnlichkeiten mit ihnen haben. 
 

MOMENT: Im Film schilderst du, was bei einem Spaziergang mit deiner Urgroßmutter passierte. Eine Frau lief vor euch davon und deine Urgroßmutter murmelte: “Das war meine Schwester.” Die beiden hatten jahrzehntelang nicht mehr miteinander gesprochen. Warum dieses Schweigen?

Barbara Kaufmann: Darauf gibt es keine richtige Antwort. Es gibt Mutmaßungen. Das steht auch am Anfang des Films: Jede Erinnerung von uns ist Spekulation.

Die Vermutung liegt nahe, dass es an einem fürchterlichen Unglücksfall liegt, der die Frauen auseinandergebracht hat. Und es gab wohl politische Gründe: Meine Uroma war nie in der NSDAP, sie war eine überzeugte Sozialdemokratin und Antifaschistin. Ihre Schwester war mit einem Nazi verheiratet und hat in einem arisierten Palais gewohnt. 

MOMENT: Wie konntest du auf das Leben deiner Urgroßmutter zugreifen? Wie hast du das rekonstruiert?

Kaufmann: Einerseits durch meine persönlichen Erinnerungen. Es gibt Dinge, die mir meine Uroma einfach so erzählt hat. Sie hatte wohl schwere Kriegstraumata. Als ich einmal vom Schwimmen gekommen bin, hat sie zu mir gesagt: “Du hast so blaue Lippen. Die Kinder hatten auch ganz blaue Lippen in der Nacht, wenn sie erstickt sind.” Sie war ja Krankenschwester.

Neben meinen Erinnerungen und denen meiner Mutter war es wirklich viel Recherche. Ich habe Geburtenbücher und Abschriften durchwühlt und Menschen aufgespürt, die mir etwas erzählen konnten. 

Ich war zum Beispiel auf einem Friedhof in Kärnten, wo die Schwester und der Bruder meiner Uroma begraben wurden. Die sind als ganz kleine Kinder gestorben. Es gab einen Friedhofswärter, der selber uralt war und sich an eine Geschichte von 1906 erinnert hat. Man hat sich damals erzählt, dass die Mutter nicht einmal zum Begräbnis der eigenen Kinder gekommen ist. Das war meine Ur-Urgroßmutter. Das geistert immer noch herum.

MOMENT: Dass du diese Geschichten über Gespräche mit anderen Frauen aufbereitet hast, ist doch sehr ungewöhnlich. Warum hast du das so gemacht?

Kaufmann: Es gab so viele Dinge, die ich überhaupt nicht verstanden habe. Die Großmutter meiner Urgroßmutter etwa war die Tochter eines Oberlehrers am Land. Eine angesehene Familie. Sie hat ein uneheliches Kind bekommen. Deswegen wurde sie in ein Zimmer hinter der Küche gesperrt. Dort hat sie bis zu ihrem Tod gelebt. Ich habe mir gedacht: Warum lässt du das zu? Warum gehst du nicht?

Ihre Tochter wiederum ist in die Stadt abgehauen. Dort bekam sie acht uneheliche Kinder. Sie hat so viel erlitten, weil sie selbst ein uneheliches Kind war – und dann das? Sie ist dann auch nicht zum Begräbnis ihrer eigenen Kinder gegangen. Warum macht man das als Mutter? 

Ich konnte das alles nicht verstehen. Erst im Dialog mit anderen Frauen habe ich irrsinnig tolle Antworten darauf bekommen. Das hat mir viele Horizonte geöffnet, die ich selber nicht hatte. Vor allem, wenn es um die eigene Familie geht, ist der Blick ja oft sehr eng.

MOMENT: Warum sollten uns solche Geschichten eigentlich interessieren? Warum sollte ich ins Kino gehen, um mir die Lebensgeschichte deiner Urgroßmutter anzusehen?

Kaufmann: Man bekommt einen Blick auf Zustände, die man nie wieder erleben möchte. Der Film erzählt viel darüber, wie Frauen behandelt wurden. Wovon ihre Existenzen abhängig waren. Um wie viel stärker das Patriarchat früher noch war. Wie rechtlos und ausgeliefert Frauen waren, wie viel sie erleiden mussten.

Gleichzeitig erfährt man viel über die politische Situation Österreichs im 20. Jahrhundert. Das Jahr 1934 war für meine Urgroßmutter zum Beispiel total wichtig. Sie hat noch als sehr alte Frau über den Bürgerkrieg gesprochen. Das ist ein Kapitel unserer Geschichte, das wir in Österreich sehr gerne vergessen.

MOMENT: Warum ist es dir wichtig, solche Geschichten zu zeigen?

Kaufmann: Ich denke, es schärft das Bewusstsein dafür, wie die Lebensrealität vom Großteil der Menschheit aussieht. Mein Film zeigt etwa, wie viel Positives sich in Österreich im letzten Jahrhundert beim Sozialsystem getan hat. Aber man versteht dadurch, was andere Menschen jeden Tag durchleben müssen, um ihren Platz im Leben verteidigen zu können. 

Es tut allen gut, sich damit zu beschäftigen. Und Geschichten von “einfachen” Menschen zeigen immer noch die Lebensrealität der meisten Menschen. Man bemerkt dadurch vielleicht auch, mit was für trivialen Dingen man sich im Vergleich herumschlägt.

MOMENT: Das Leben deiner Urgroßmutter wirkt sehr hart und dramatisch. War es dennoch ein gutes Leben?

Kaufmann: Für sie war es ein hartes Leben – aber auch eines, in dem sie eine große Erfüllung erlebt hat. Das konnte sie nur, weil sie so eine starke Haltung hatte. 

Meine Urgroßmutter war bis zu ihrem Tod eine wahnsinnig politische Person. Und sie kannte immer ihren Standpunkt. Sie wusste 1934, wo sie steht. Sie wusste in der NS-Zeit, wo sie steht. Und sie wusste es auch danach. Mit ihrem Mann führte sie eine Beziehung auf Augenhöhe – auch schon in den 1920er-Jahren. 

Ja, ihr Leben war hart und entbehrungsreich. Aber bis ins hohe Alter, in dem ich sie erlebt habe, hat sie sich ihre Haltung bewahrt. Weil sie eben wusste, wo sie steht.

MOMENT: Fehlen solche Menschen heute?

Kaufmann: Wenn heute jemand auftaucht, der Haltung hat und diese nach außen trägt, ist die Überraschung riesig. Es wird sofort nach Gründen gesucht, warum er oder sie das macht. Weil wir schon so verseucht sind mit Korruption und Machtspielen. Wie bedenklich ist es, dass wir Haltung als Masche abtun – und nicht glauben können, dass das ernst gemeint ist?

Deswegen scheuen auch viele die Öffentlichkeit. Es gibt immer noch genug Menschen mit Haltung. Auch in der Politik. Ich glaube dem Andreas Babler zum Beispiel seine Haltung. Auch im rechten Spektrum sind leider sehr viele von dem überzeugt, was sie sagen. 

MOMENT: Das ist vielleicht ein gewagter Vergleich, aber: Mit Napoleon läuft wiedermal ein Blockbuster über einen mächtigen Mann, der seine Zeit geprägt hat, in unseren Kinos. Ist dein Film eine Antithese dazu?

Kaufmann: Das ist tatsächlich ein sehr großer Vergleich (lacht). 

Bei Napoleon denke ich mir: Es ist nicht mehr an der Zeit, dass wir dauernd diese Pimmelträger als Hauptfiguren haben sollten. Ich will mir das nicht mehr anschauen und ich kenne wahnsinnig viele Frauen, die das auch nicht mehr wollen. Es gibt so viele Heldinnen in der Geschichte, die in Vergessenheit geraten sind. Weil sie immer unter den Teppich gekehrt wurden. 

Wenn mein Film eine Antithese dazu wäre, würde ich mich wahnsinnig freuen. Ich finde daran nämlich nicht nur meine Urgroßmutter toll oder stark. Sondern auch all die Frauen, die ich interviewt habe.

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