Bürgergeld-Studie in Deutschland: So wird endlich einmal richtig über die Sozialhilfe diskutiert

Ob in Österreich oder Deutschland: Die vergangenen Wochen, Monate und in Wahrheit Jahre waren geprägt von einer immer aggressiveren Debatte um die Sozialhilfe. Einzelne Ausreißer-Phänomene (Familien mit 11 Kindern) wurden verallgemeinert und das Geifern nach Kürzungen immer lauter. Zumindest in Deutschland scheint sich nun der Wind zu drehen.
Der Grund für die neue Ernsthaftigkeit in der Debatte sind einfache Fakten. Denn es gibt eine neue Studie, die unter Empfänger:innen des Bürgergelds durchgeführt wurde. Der Verein “sanktionsfrei” hat sie beauftragt und die Ergebnisse sind erschreckend. So verzichten etwa 54 % der befragten Eltern auf Essen, damit ihre Kinder satt werden. Satte 72 % der Befragten geben an, dass das Geld nicht ausreicht, um die täglichen Bedürfnisse zu stillen. Über Stromnachzahlungen oder eine kaputte Waschmaschine darf man in dieser Situation gar nicht nachdenken.
Der Regelsatz in Deutschland beträgt 563 € für einen Erwachsenen – deutlich weniger als die 813 €, die „sanktionsfrei“ für angemessen hält. Für Paare und Kinder gibt es geringere Sätze. Zudem übernimmt das Jobcenter die (aus deren Sicht) angemessenen Wohnkosten. Zum Vergleich: In Österreich beträgt der Betrag 1.209€. (Allerdings sind die Preise in Österreich höher und die Wohnkosten müssen damit selbst getragen werden.)
Warum brauchen Menschen in Deutschland das Bürgergeld?
Die Studie hat aber nicht nur das Auskommen mit dem Bürgergeld befragt. Sie untersucht auch, welche Gründe die Betroffenen haben, warum sie es überhaupt brauchen. Drei Viertel wollen eigentlich ohne Bürgergeld leben können. Fast die Hälfte schämt sich sogar dafür, es zu brauchen. Aber nur ein Viertel glaubt noch daran, einen Job zu finden, der ihnen erlaubt, das Bürgergeld zu verlassen. Und gerade einmal 28 % fühlen sich vom deutschen Jobcenter dabei unterstützt, Arbeit zu finden.
Die meisten Menschen geben als Gründe dafür, das Bürgergeld zu brauchen, entweder körperliche (59 %) und/oder psychische Krankheiten (57 %) an. Gesünder zu werden, würde demnach auch helfen, wieder eine besser bezahlte Arbeit zu finden. Aber 77 Prozent sagen, dass das niedrige Bürgergeld mitsamt finanzieller Unsicherheit selbst psychisch belastend ist. Und auf Essen oder gesunde Ernährung aus Kostengründen zu verzichten, hilft dabei auch nicht.
Mehr als die Hälfte der Menschen sagt außerdem, es gibt keine passenden Jobangebote in ihrer Region. Und sogar noch ein bisschen mehr Befragte bekommen von Unternehmen keine Reaktionen auf ihre Bewerbungen. 16 % müssen Angehörige pflegen, für 15 % fehlt die Kinderbetreuung.
Damit lösen sich die Mythen der sozialen Hängematte in Luft auf. Das Problem liegt woanders: Es ist das Auseinanderklaffen von Willen und Wirklichkeit. Dort muss strukturell angesetzt werden. Der Verein “sanktionsfrei” schlägt dementsprechend richtig vor, dass Weiterbildungen und Hilfestellungen sinnvoller sind, als noch mehr Druck und Sanktionen, die offenbar erst zu dieser verzweifelten Lagen geführt haben.
Bürgergeld-Studie: Plötzlich eine andere Debatte
Die Studie bewirkt in der Öffentlichkeit drei Dinge. Zum einen gibt sie uns dringend notwendige Daten. Gerade im Bereich Sozialhilfe wird sonst in Medien und Politik eher mit Mythen, als mit Fakten gearbeitet. Anekdoten werden über die Realität der Mehrheit gestellt. Eine solide Datenlage ist immer wichtig, um lösungsorientiert debattieren zu können.
Zweitens macht sie die Bürgergeldempfänger:innen wieder zu Menschen. Die menschenfeindlichen Kampagnen der letzten Zeit haben sowohl in Österreich als auch in Deutschland bewirkt, dass Sozialhilfe-Empfänger:innen nur noch als Problem oder gar als gierige Abzocker:innen wahrgenommen wurden.
Das führt drittens dazu, dass wir eine andere Debatte führen. Wenn die Debatte von rechts und neoliberal dominiert wird, dreht sie sich darum, wie man Menschen ihre Menschenwürde nimmt, sobald sie Sozialhilfe beziehen. Diese Debatte auf Basis der Studie aber dreht sich darum, wie Menschen ihre Menschenwürde erhaltenoder zurückbekommen können, auch wenn sie Sozialhilfe empfangen.
Das ist diametral unterschiedlich. Sie zeigt, dass Menschen keine zu gängelnden störrischen Wesen sind, die nur auf Druck reagieren, sondern Hilfestellungen und strukturelle Unterstützung benötigen. Am Wollen scheitert es nämlich nicht.