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Ungleichheit

Die sind einfach nur asozial!

Daniela Brodesser und ihre neue Kolumne: Armutprobe. Das Cover zeigt Brodessers skizziertes Porträt.
Vor einigen Tagen habe ich mit einer Bekannten über Armut diskutiert. Im Laufe des Gesprächs kam ein Satz, den ich ständig höre: "Du bist ja anders, aber schau dir die ganzen Asozialen an."

Vor einigen Tagen habe ich mit einer Bekannten über Armut diskutiert. Im Laufe des Gesprächs kam ein Satz, den ich ständig höre: „Du bist ja anders, aber schau dir die ganzen Asozialen an.“

Heute werden Menschen als „asozial“ beschimpft, die vielleicht trotz Arbeitslosigkeit nicht jeden Tag um 7:00 Uhr früh aufstehen, mal zu einer Fast-Food-Kette essen gehen oder am Abend lieber fernsehen, anstatt ein Sachbuch zu lesen. Kurz: Menschen, die sich nicht so verhalten, wie es sich die Mehrheitsgesellschaft wünscht.

Auch wenn meine Bekannte mich im Gespräch ausdrücklich ausgenommen hat – das Wort trifft mich. Denn hinter dieser Beleidigung steckt eine lange und grausame Geschichte.

„Asozial“ als Todesurteil

Während des nationalsozialistischen Regimes unter Adolf Hitler galten in Österreich und Deutschland Personen als “asozial”, die zwar kein Verbrechen begangen haben, aber nicht in die Gemeinschaft passten, wie sie sich die NationalsozialistInnen vorgestellt hatten. Dazu zählten Wohnungslose, Roma, Sinti, Jüdinnen und Juden, Alkoholkranke, Menschen, die nicht gearbeitet haben und nicht-heterosexuelle Personen.

Vor Willkür war niemand geschützt, denn die Definition von „asozial“ war so breit, dass man bloß einzelnen Nazis – aus welchen Gründen auch immer – auffallen musste, um in Arbeitshäuser oder Konzentrationslager deportiert, zwangssterilisiert und ermordet zu werden.

Bereits im Jahr 1933 verhafteten SA und SS zehntausende Wohnungslose. Ein paar Jahre später durften alle, die als „asozial“ galten, vorbeugend verhaftet werden. 1938 wurden mehr als 20.000 Menschen unter der Aktion “Arbeitsscheu Reich” in Konzentrationslager deportiert.

Eine Aufarbeitung dieser haarsträubenden Verbrechen fehlt bis heute.

Mein Vorschlag: Wir sollten das Wort „asozial“ gänzlich aus unserem Wortschatz streichen. Es sei denn, wir sprechen über die Verbrechen des NS-Regimes.

Über mich:

Ich heiße Daniela Brodesser, bin 1975 in Linz geboren, habe vier wundervolle Kinder zwischen 11 und 23 und bin verheiratet. Zwei Krankheiten in der Familie haben unser Leben ab 2008 vollends auf den Kopf gestellt. Die Folge war ein Teufelskreis aus Armut, Beschämung, Selbstzweifel und Isolation. 2018 begann ich damit an die Öffentlichkeit zu gehen und über Armut und deren Folgen zu twittern.

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