Die Wahrheit über die Menschenrechtskonvention: Wer den EGMR angreift, schadet sich selbst

Wenn österreichische Politiker:innen, Medien und sogar Rechtswissenschafter:innen zum Angriff auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) blasen, dann findet sich wenig Korrektes wieder.
Ende Mai forderte Bundeskanzler Stocker in einem aufsehenerregenden Brief gemeinsam mit den Regierungschefs von Dänemark, Italien, Belgien, Tschechien, Polen und den baltischen Staaten eine Neuauslegung der Menschenrechte, die sie nicht näher bestimmten. Die Verfasser:innen behaupteten, der EGMR habe in einigen Fällen die Fähigkeit eingeschränkt, „die Bevölkerung vor den heutigen Herausforderungen zu schützen“. Ihre Forderung: „Wir sollten auf nationaler Ebene mehr Spielraum haben, um zu entscheiden, wann wir kriminelle Ausländer ausweisen.“
Der vom Innenministerium oft und gern befragte Jurist und Dekan der Universität Innsbruck, Walter Obwexer, sieht eine „großzügige Interpretation“ des absoluten Verbots der unmenschlichen Behandlung und Folter. Er verwies ohne nähere Konkretisierung auf „Menschen aus Somalia, Eritrea oder Indien“, die trotz Straffälligkeit vom EGMR Unterstützung gegen Abschiebungen erhalten haben sollen.
Direkter wurde noch die Integrationsministerin: „Aufgrund der EMRK sind uns die Hände gebunden“, so Plakolm. Nun ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist ein Mindeststandard. Ein Katalog von Abwehrrechten der Bevölkerung gegen schrankenloses Verhalten von Regierenden. Genau aus diesem Grund steht sie in Österreich im Verfassungsrang. Noch bevor man das einwenden konnte, sah die „Presse“ gar das selbstverschuldete Ende kommen: “Der EGMR schaufelt sich sein eigenes Grab”, vor allem durch einen angeblichen „Aktivismus“ bei Migrationsfragen.
Europäische Menschenrechtskonvention: Das Dokument und seine Macht
Die EMRK und ihre Ergänzungen schränken die Macht der Regierung nicht nur durch das Folter- und Sklavereiverbot ein. Sie sieht auch andere Rechte der Menschen wie das Recht auf Eigentum oder die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit vor. Die EMRK gilt in 46 Ländern und ist in Österreich seit 1964 durch eine Zweidrittelmehrheit in der Verfassung verankert worden.
Das Besondere ist, dass die Länder, die die EMRK anerkannt haben, ein weltweit einzigartiges Kontrollsystem geschaffen haben. Jeder Mensch kann sich nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel in einem Staat an den Gerichtshof – und somit an eine internationale Stelle – wenden. Der EGMR ist die höchste Instanz der Rechtsauslegung der Konvention. Die Staaten haben sich verpflichtet, seine Entscheidungen umzusetzen. Sie ernennen auch die Richter:innen.
Für den Fall, dass sich ein Mitgliedstaat weigert, hat der EGMR aber keine Polizei. Der Gerichtshof ist daher darauf angewiesen, dass seine Autorität auch faktisch beachtet wird. Sein wohl schärfstes Mittel ist eine Eilentscheidung (Einstweilige Anordnung/Interim measure). Der Gerichtshof entscheidet keine Asylfälle, weil das Recht auf Asyl kein in der EMRK verbrieftes Recht ist. Wenn er von Betroffenen angerufen wird, muss er aber eingreifen, falls die Gefahr besteht, dass ein Staat durch die Zwangsmaßnahme einer Abschiebung das Verbot der unmenschlichen Behandlung verletzt.
Die Zahlen zum EGMR: Ein Sturm im Wasserglas
Die Zahlen zeigen, wie absurd die Anschuldigungen sind:
- 2024 hat der Gerichtshof aus allen Mitgliedsländern etwa 29.000 Beschwerden erhalten und zur Bearbeitung zugewiesen. Das sind etwa 4 pro 100.000 Einwohner:innen.
- Aus Österreich wurden zwischen 2021 und 2024 insgesamt 139 Fälle behandelt, in denen Eilentscheidungen beantragt wurden: In exakt zwei Fällen wurde diese Ausnahmemaßnahme tatsächlich gewährt.
- Einer der beiden Fälle betraf 2021 die vom damaligen Innenminister Nehammer geplante Abschiebung nach Kabul, als die Terrormiliz der Taliban gerade Afghanistan überrannte.
Der Gerichtshof hat im Vorjahr ca. 36.000 Anträge und Beschwerden erledigt. In 1.000 Entscheidungen stellte er Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Vertragsstaaten fest – 406 Mal wurde das Folterverbot verletzt: 50% aller Verurteilungen betrafen Russland (das sind nur alte Fälle von vor 2022, als Russland aus dem Europarat) ausgeschlossen wurde), 20% betrafen die Türkei und die Ukraine. Über 70% der vom EGMR festgestellten Verletzungen des Verbots der unmenschlichen Behandlung betrafen somit weder das Thema Migration noch EU-Mitgliedstaaten.
Österreich hat zwischen 2021 und 2024 über 20.000 Menschen abgeschoben, davon waren mehr als die Hälfte straffällige Personen. Vor diesem Hintergrund ist die Behauptung geradezu absurd, der EGMR würde durch seine zwei (ZWEI) gewährten Eilentscheidungen die Handlungsmacht der Regierung beschränken.
Nur Fragen zu Fällen aus Syrien und Somalia
Im ersten Halbjahr 2025 gab es bislang insgesamt 24 vom EGMR ausgesprochene Eilentscheidungen. Zwei davon betrafen Abschiebungen aus Österreich (nach Somalia und Syrien). In beiden Fällen hatte der EGMR Fragen an die Bundesregierung zur konkreten Umsetzung und drohender Gefahren.
In beiden Fällen wurde die Eilentscheidung wieder aufgehoben und die Abschiebungen durchgeführt. Wie viel Spielraum das alles der Regierung lässt, sieht man an einem davon. Denn in dem fehlt von der Person, die nach Syrien abgeschoben und den dortigen Behörden übergeben wurde, nun bislang jede Spur.
Angriff auf die eigenen Rechte
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist das perfekte Feindbild für politische Inszenierungen. Er sitzt im Ausland und begrenzt die Macht von Regierung, die vorgeben kann, einen wie auch immer gearteten Volkswillen durchzusetzen. Aber die Daten zeigen klar, dass der EGMR der ihm unterstellten Progressivität nicht ansatzweise gerecht wird.
Das ist an sich enttäuschend genug. Aber nun wird die faktenwidrige Behauptung des Gegenteils auch noch genutzt, um den Rest seiner Autorität abzutragen zugunsten einer nationalstaatliche Verzwergung.
Es ist nicht der Gerichtshof selbst, der sich das Grab schaufelt. Wer sich vor dem Hintergrund der geschilderten Daten vor die Kampagne gegen den EGMR spannen lässt, gräbt ihm eine Grube. Aber da er eine Abwehr gegen einen übergriffigen, autoritären Staat darstellt, graben wir uns als Menschen selbst eine Grube, die von jenen Rechten geschützt werden, über die er wachtt.