Wegen 60 Euro Strafe ins Gefängnis? In Österreich geht das
Der 45-Jährige fuhr im Februar 2022 mit dem Auto am Ring in Wien. Der Verkehr stockte. Walter machte einen Fehler. Er kam auf einer Kreuzung zu stehen. Nichts ging mehr. Und die Ampel schaltete auf Rot. Walter erhielt eine Verkehrsstrafe. Ursprünglich sollte er 95 Euro bezahlen. Walter legte Beschwerde ein. Auch, weil er nicht wusste, wie er die Strafe bezahlen sollte.
„Ich muss jeden Euro umdrehen“, sagt Walter zu MOMENT.at. Er hat einen Herzinfarkt hinter sich und leidet seit mehr als zehn Jahren an einer Panikstörung. Er kann aktuell nicht arbeiten. Deswegen muss er mit 830 Euro im Monat auskommen. Mit dem wenigen Geld kann er nicht einmal die Fixkosten bezahlen. Sein Konto hat er überzogen. Die Miete zahlt er mit Kreditkarte. Die Schulden häufen sich. „Das dreht sich im Kreis“, sagt er.
Auch der Richterin erklärte Walter seine schwierige finanzielle Lage. Sie setzte die Geldstrafe herab, weil er unbescholten war.
Wer nicht zahlen kann, bekommt eine Ersatzfreiheitsstrafe
Die neue Zahlungsaufforderung der Landespolizeidirektion Wien erreicht ihn im Jänner 2023. 60 Euro. Innerhalb von zwei Wochen solle Walter das Geld überweisen. Aber auch diese Summe kann er nicht aufbringen.
Obwohl sich seine finanzielle Lage in naher Zukunft kaum verbessern wird, will Walter die Strafe bezahlen. Im Jänner ruft er seinen Sachbearbeiter bei der Polizei an und bittet darum, in kleinen Raten zahlen zu dürfen. Der Mann am anderen Ende der Leitung wimmelt ihn ab, sagt Walter. Er solle die Geldstrafe absitzen.
Jedes Mal, wenn Behörden eine Geldstrafe verhängen, legen sie gleichzeitig eine Ersatzfreiheitsstrafe fest, falls die betroffene Person nicht bezahlen kann. Einen fixen Schlüssel zur Umrechnung von Euro und Freiheitsentzug gibt es nicht. Die Behörde entscheidet im Rahmen selbst, wie viel die Freiheit wert ist.
Von der Kreuzung ins Gefängnis
In Walters Fall entspricht einmal auf der Kreuzung stehen bleiben 60 Euro oder 20 Stunden seines Lebens. Haft will er um jeden Preis vermeiden – gerade mit seinen Panikattacken. „Schon als der Sachbearbeiter mir das gesagt hat, habe ich eine Panikattacke bekommen“, sagt Walter. „Ich habe die letzten Nächte nicht schlafen können.“ Walter fragt noch einmal nach, bittet darum, die Strafe abstottern zu dürfen. Bald kommt der Bescheid der Polizei: Walters Ansuchen wurde abgelehnt.
Der Grund? Das Geld sei „uneinbringlich“. Als Beweis dafür dient Walters finanzielle Not, die er auch vor Gericht angegeben hatte. Vermögen besitzt er keines, nur sein 20 Jahre altes Auto. Der Polizei ist egal, dass Walter zahlen will. Weil er unter dem Existenzminimum von etwa 1.100 Euro lebt, geht sie davon aus, dass er nicht in der Lage ist, zu zahlen.
Teilzahlung würde „Strafcharakter verlieren“
Gleichzeitig steht im Bescheid, dass eine Teilzahlung von 10 Euro im Monat zu klein ist und der „Strafcharakter verloren gehen würde“. Die Polizei argumentiert also, dass Walter zu wenig hat, um sich 10 Euro im Monat leisten zu können – und gleichzeitig, dass eine so niedrige Rate ihm nicht genug wehtun würde.
Tausende Menschen müssen in Österreich jedes Jahr ins Gefängnis, weil sie eine Verwaltungsstrafe nicht bezahlen können. In den Polizeianhaltezentren wurden 2022 insgesamt 5.243 Menschen als Verwaltungshäftlinge aufgenommen. Wer diese Menschen sind, was sie getan haben und wie hoch die Strafen sind, die sie absitzen müssen, das erhebt in Österreich niemand. Klar ist, dass Menschen mit kleinem Einkommen eher betroffen sind.
Ob man Strafen zahlt oder stattdessen ins Gefängnis geht, kann man sich nämlich nicht aussuchen, sagt Anwalt und Dozent an der Universität Wien Bernhard Müller. Bevor die Ersatzfreiheitsstrafe vollzogen wird, muss eigentlich viel passieren. „Da kommt unter Umständen im Morgengrauen der Exekutor und nimmt alles mit, was Geldeswert hat.“ Haft sollte der letzte Ausweg sein.
Sollte jemand, der einmal unabsichtlich bei Rot auf einer Kreuzung zu stehen kommt, eingesperrt werden? Nur weil er nichts mehr hat, das man ihm abnehmen könnte? Noch dazu, obwohl er die Strafe zahlen möchte, so schnell er eben kann? „Die umgekehrte Konsequenz wäre, Verwaltungsstrafen anhäufen zu können, ohne dass etwas passiert“, sagt Müller. Doch neben Geldstrafen und Freiheitsentzug gibt es Alternativen. Und unser Recht weiß das auch.
Gemeinnützige Arbeit statt Haft
Im Strafrecht kann man sich in der Diversion noch vor dem Schuldspruch einigen. Beschuldigte können zum Beispiel gemeinnützige Arbeit verrichten. Auch im Finanzstrafrecht gibt es die Möglichkeit, zu arbeiten, statt eine Strafe abzusitzen. Damit werden im Jahr über 80.000 Hafttage verhindert.
Warum gibt es diese Möglichkeit nicht in der Verwaltung, bei Verkehrsstrafen wie der von Walter? Die Alternative war bereits vor fünf Jahren in Planung. Die Rot-Schwarze Regierung unter Christian Kern legte eine Gesetzesnovelle vor, die gemeinnützige Arbeit statt Ersatzfreiheitsstrafe im Verwaltungsrecht ermöglichen sollte. Doch vor einem Beschluss ließ Sebastian Kurz die Regierung platzen. Die Nachfolgeregierungen scheinen auf den Gesetzesentwurf vergessen zu haben.
Was sagt Ministerin Edtstadler dazu?
Derzeit wäre Ministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) für das Verwaltungsstrafrecht verantwortlich. MOMENT.at wollte von ihr wissen, was aus der Novelle geworden ist und was sie zu Walters Fall sage, der wegen 60 Euro ins Gefängnis soll. Über ihren Pressesprecher lehnte Edtstadler ab, die Fragen zu beantworten. Die Thematik werde „derzeit geprüft“ und sie könne sich „derzeit nicht dazu öffentlich äußern“. Im Regierungsprogramm findet sich dazu nichts.
Die Teuerung belastet arme Menschen besonders stark. Lebensmittel waren im Dezember 2022 um 16 Prozent teurer als im Vorjahr. Walter spürt das im Alltag. „Ich überlege mir oft, ob ich das jetzt kaufen kann oder nicht, wenn das Kilo Brot vier Euro kostet. Das ist ja ein Wahnsinn“, sagt er. Wie ihm geht es unzähligen Menschen.
Verwaltungsstrafen müssen bezahlt oder abgesessen werden
Bernhard Sell von der Schuldnerberatung Wien erwartet einen Anstieg an Privatkonkursen wegen der Pandemie und der Teuerung. Seine Kolleg:innen haben laufend mit dem Thema Ersatzfreiheitsstrafe zu tun, sagt er. Verwaltungsstrafen können nicht über den Privatkonkurs geregelt werden, sie müssen vorher bezahlt oder abgesessen werden. Klient:innen landen immer wieder im Gefängnis, weil sie die Strafen nicht bezahlen können. Sell rät, sich lieber früher als später an die Schuldnerberatung zu wenden: „Wenn man die Hürde genommen hat, ist das Schlimmste oft schon geschafft.“
Walter gibt die Hoffnung noch nicht auf. Er überlegt, Beschwerde gegen den Bescheid der Polizei einzulegen oder um einen Haftaufschub anzusuchen. In einem halben Jahr könnte er das Geld zusammenkratzen. „Dass ich deswegen ins Gefängnis muss, das ist mir unverständlich“, sagt Walter. „Ich habe keinen gefährdet. Ich habe keinen verletzt. Ich habe keinem was getan.“