Ersatzfreiheitsstrafen: Wie in Österreich Arme weggesperrt werden
Rita* hat einen Fehler gemacht. Sie hat die Vignette auf die falsche Seite geklebt und ist auf der Autobahn gefahren – mehrmals. Bald flattern die Strafzettel ein wie Flyer, beschreibt sie. Fast 4.000 Euro soll sie insgesamt bezahlen. Doch ihre finanzielle Situation ist schwierig. Ihr Mann ist nach einem Unfall arbeitslos. Rita hat nach einem Schlaganfall einen Behinderungsgrad von 50 Prozent. Damit die Familie mit zwei Kindern doch noch über die Runden kommt, arbeitet sie schwarz als Reinigungskraft.
Über drei Jahre ist es her, dass sie die hohe Geldstrafe bekommen hat. Abbezahlt ist sie immer noch nicht. Rita stottert jeden Monat 50 Euro ab. Wenn sie in dem Tempo weitermacht, wird sie noch weitere drei Jahre brauchen. Die Pandemie und die Inflation tun ihr Übriges. „Das Geld ist noch knapper als damals und alles wird teurer“, sagt Rita, heute 48 Jahre alt. „Mit dem Putzen können wir gerade mal die wichtigsten Bedürfnisse abdecken.“
Ersatzfreiheitsstrafen bestrafen Armut
Weder der Staat noch eine Person hat Schaden davongetragen, als sie mit der falsch geklebten Vignette auf der Autobahn gefahren ist. „Ich verstehe, wenn ich eine Strafe bekomme. Aber sieben? Obwohl ich eine Vignette hatte?“
Trotzdem kratzt sie jeden Monat das Geld zusammen. Denn wenn sie nicht bezahlt, droht ihr eine Ersatzfreiheitsstrafe. „Ich habe manchmal gedacht, egal, dann gehe ich ins Gefängnis. Aber eine Bekannte hat das gemacht und erzählt, wie schlimm sie dort behandelt wurde. Als Migrantin weiß ich nicht, wie sie dort mit mir umgehen würden.“
2021 gab es in Österreich 5.015 Verwaltungshäftlinge. In dieser Zahl sind auch jene enthalten, die wegen eines Verwaltungsdelikts gleich eine direkte Freiheitsstrafe bekommen haben. Das kommt aber laut Expert:innen fast nie vor. Wie viele der Insass:innen arbeitslos sind, wie viele nicht die österreichische Staatsbürgerschaft oder auch nur ein Obdach haben, erhebt weder das Innenministerium noch die in Wien zuständige MA6. Nicht einmal die zugrundeliegenden Taten werden für eine Statistik erfasst.
Freiwillig sind diese Menschen jedenfalls nicht in Haft. Der weit verbreitete Glaube, man könne sich zwischen Zahlen und Absitzen frei entscheiden, ist falsch. „Die Behörde darf eine Ersatzfreiheitsstrafe nur dann vollziehen, wenn die Geldstrafe nicht bezahlt werden kann – oder die Behörde zumindest davon ausgehen kann“, sagt Jurist Tobias Fädler von der Universität Wien.
Damit bestraft die Verwaltung Menschen, die sich die Geldstrafen nicht leisten können. Wohlhabende Menschen zahlen, arme gehen ins Gefängnis. Das bestraft Armut. Dass jedes Jahr Tausende ungefährliche Menschen inhaftiert werden, sollte zu denken geben. Die Taten sind oft klein und haben überschaubare Konsequenzen: Falschparken, betteln oder, wie in Ritas Fall, das Fahren mit falsch platzierter Vignette.
Immer wieder gibt es Medienberichte über obdachlose Menschen, denen verhältnismäßig hohe Geldstrafen aufgebrummt werden. Zum Beispiel im Winter 2021 in Salzburg. Dort verhängte die Polizei eine Geldstrafe von 150 Euro, weil eine obdachlose Frau unter den Dombögen geschlafen hatte. Der Standard zitierte aus dem Strafbescheid: „Sie haben am angeführten Ort zur angeführten Zeit durch das Liegen bzw. Sitzen auf dem Boden den öffentlichen Anstand an einem allgemein zugänglichen Ort verletzt.“ Ihr drohte eine Ersatzfreiheitsstrafe. Durch Spenden kam das Geld rechtzeitig zusammen, sagt Georg Wimmer von der Plattform für Menschenrechte zu MOMENT. Die obdachlose Frau hätte die Strafe nicht selbst bezahlen können. Wie auch?
Soziale Situation wird kaum berücksichtigt
MOMENT sprach mit mehreren Personen, die wegen kleiner Vergehen eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten mussten. Eine Studentin und Kellnerin verbrachte 2019 eine Woche im Polizeianhaltezentrum an der Rossauer Lände, weil sie mit 0,8 Promille Fahrrad gefahren war. Eine andere Frau saß vor rund 30 Jahren 24 Stunden in Tirol ab, weil sie ohne Fahrschein die Öffis benutzt hatte. Sie erinnert sich immer noch daran, als wäre es gestern gewesen. Ab dem dritten Tag merkte er die Anspannung davon, eingesperrt zu sein, erzählt ein Mann, der gemeinsam mit Obdachlosen inhaftiert war.
„Das Grundprinzip ist: Die Tat ist nicht so schwer, dass eine Freiheitsstrafe notwendig ist. Die Person bekommt eine Geldstrafe. Kann sie diese nicht bezahlen, bekommt sie erst recht eine Freiheitsstrafe. Sinnvoll ist das nicht“, sagt Alois Birklbauer, Jurist und Professor an der Johannes Kepler Universität Linz.
Birklbauer glaubt, dass viele Menschen die komplizierten Schreiben zu den Strafen nicht verstehen. Dazu kommt, dass es im Verwaltungsrecht deutlich weniger Möglichkeiten gibt, die Strafen an die soziale Situation der betroffenen Personen anzupassen, sagt er.
Gerichtliche Geldstrafen werden anhand des Einkommens berechnet. Verwaltungsstrafen nicht. „Wenn ich alkoholisiert mit dem Auto unterwegs bin, dann gibt es 1.000 Euro Mindeststrafe. Egal, ob das der Lehrling oder der Generaldirektor ist.“
Wenn die Verwaltung härter straft als die Justiz
Die Unterschiede zwischen den Strafsystemen führen dazu, dass Verwaltungsstrafen deutlich härter ausfallen können als die der Justiz. Birklbauer erklärt das anhand von Cannabis. Manche fordern, der Konsum von Cannabis solle nur noch mit einer Verwaltungsstrafe bedroht werden. Doch das könnte zum Gegenteil des gewünschten Effekts führen. Gerichte verordnen oft nur „gesundheitsbezogene Maßnahmen“ wie Beratungen. „Die Verwaltung hat solche Möglichkeiten gar nicht“, sagt Birklbauer. Armen Menschen würden dann wieder Ersatzfreiheitsstrafen drohen.
Es gibt Alternativen. Im Vergleich zur Verwaltung sind Ersatzfreiheitsstrafen in der Justiz selten. 2021 wurden sie nur 290 Mal vollzogen. Ein Grund dafür ist, dass Menschen, die nicht zahlen können, die Möglichkeit haben, stattdessen gemeinnützig zu arbeiten. Der Verein Neustart vermittelt sie an Organisationen, die helfende Hände brauchen. Dank dieser Alternative können im Jahr rund 83.500 Hafttage vermieden werden. Neustart-Sprecher Thomas Marecek spricht von einer „Win-Win-Situation“, die auch bei Verwaltungsstrafen sinnvoll wäre.
Doch die Diskussion um eine Ausweitung dieser Alternative ist eingeschlafen. 2017 wurde angekündigt, gemeinnützige Arbeit auch bei Verwaltungsstrafen möglich zu machen. Passiert ist das aber nicht.
Rita hätte lieber gemeinnützige Arbeit verrichtet, als insgesamt sechs Jahre lang unter Existenzängsten eine Strafe abzubezahlen. Alois Birklbauer befürchtet, dass eine große Reform in den nächsten Jahren nicht kommen wird: „Es ist eine soziale Frage, die keine Wählerstimmen bringt und damit wenig Chancen hat, umsetzt zu werden.“
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*Name geändert