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Ungleichheit

Arbeiten in der Familiengerichtshilfe: “Wir sind total überlastet.”

Eine Schere zerteilt eine Normfamilie in zwei Hälften.
In den vergangenen Wochen haben wir auf MOMENT.at ein Dossier (Teil 1, Teil 2) über das Kindschaftsrecht veröffentlicht. Darin wurde auch viel Kritik an der Familiengerichtshilfe geübt, die in Scheidungsverfahren Stellungnahmen über die Familien vor Gericht abgibt. Daraufhin wollte uns ein:e Mitarbeiter:in aus der Familiengerichtshilfe anonym Einblick in ihren Alltag geben. So sieht es in der Familiengerichtshilfe laut diese:r Mitarbeiter:in wirklich aus. 

MOMENT.at: Was macht die Familiengerichtshilfe genau?

Mitarbeiter:in: Sie nimmt auf Forderung des Familiengerichts Fälle an, um sie psychologisch, pädagogisch und sozialarbeiterisch unter die Lupe zu nehmen. Bei Fällen, die Richter:innen “zu heiß” finden und sich nicht alleine drüber trauen – da schalten sie die FGH ein. Wir bekommen vom Gericht konkrete Fragestellungen und daraus leitet sich unser Auftrag ab.

MOMENT.at: Was sind das für Fragestellungen?

Mitarbeiter:in: Wir erstellen fachliche Stellungnahmen, die Gutachten ähnlich sind. Zum Beispiel möchte ein Elternteil das Kind jede Woche sehen, das andere ist dagegen, das Gericht sagt: Findet heraus, welche Form des Kontaktrechts im Wohle des Kindes ist. Wir führen Gespräche mit dem Familienumfeld, mit den Kindern, den Eltern, der Schule, den Großeltern, … Nach drei Monaten geben wir dann unsere Einschätzung ab.

MOMENT.at: Schlichtet ihr auch Streit unter Eltern?

Mitarbeiter:in:Unser zweitwichtigster Auftrag ist das Clearing. Können sich Eltern vor Gericht nicht einigen, sollen wir eine Einigung herbeiführen. Zum Beispiel kann das Ziel sein: Eine Vereinbarung fürs Kontaktrecht zu treffen. 

MOMENT.at: Nach einer Scheidung geht es viel ums Kontakt- oder Besuchsrecht. Wie seid ihr da eingebunden?

Mitarbeiter:in: Da gibt es zum Beispiel die Besuchsmittlung. Sie ist neben der fachlichen Stellungnahme, der spezifischen Erhebung und dem Clearing unser viertes „Produkt“. Diese wird nicht so häufig vom Gericht beauftragt. Aber wenn, dann befassen wir uns fünf Monate lang mit der Familie, begleiten und unterstützen sie dabei, dass die Kontakte trotz gegenseitiger Vorwürfe der Eltern gut funktionieren.

MOMENT.at: Das muss die Eltern doch stören, dass ihr euch da einmischt?

Mitarbeiter:in: Die Richter:innen wollen unbedingt eine Einigung. Das ist oft unrealistisch. Wir bemühen uns in erster Linie, dass die Kinder profitieren. Bei der “spezifischen Erhebung” schauen wir auch genau darauf, wie der Haushalt aussieht zum Beispiel. Das kann schon unangenehm sein, ist aber wichtig.

MOMENT.at: Der Vorwurf im Artikel war, dass ihr nicht nach wissenschaftlichen Qualitätskriterien arbeitet.

Mitarbeiter:in: Wir dürfen keine Diagnostik durchführen, Diagnosen erstellen oder Symptome diagnostizieren. Wir arbeiten dafür mit Umfeld-Erhebungen, Belastungstests, arbeiten im Duo, führen mehrere Gespräche und schauen uns monatelang die Familiendynamik an. Wir sind entweder Psycholog:innen, Pädagog:innen oder Sozialarbeiter:innen. Mit Zusatzausbildungen.

MOMENT.at: Wie überprüft ihr eure Ergebnisse?

Mitarbeiter:in: Das weiß ich nicht genau. Niemand weiß von irgendwas. Wird eine Vereinbarung erzielt, sind alle glücklich. Aber mich würde schon interessieren, ob das langfristig hält und funktioniert, was wir da einschätzen. Eine Evaluierung erreicht uns aber nie, wir wissen also nicht, wie sich was auswirkt und ob unsere Einschätzungen richtig waren.

MOMENT.at: Wo passieren Fehler?

Mitarbeiter:in: Als Vollzeitkraft bearbeitet man immer 12 Akte gleichzeitig. Das macht das Ganze fehleranfällig. Du lernst den Namen von Onkel und Cousine in 12 Fällen parallel. Da kannst du nicht gleich involviert sein. Man verwechselt die Fälle. Was mir auch fehlt, ist die Selbstreflexion. Arbeitet man mit einer Familie, geht es auch immer um die eigene. Man projiziert seine eigene Familiendynamik auf den Fall und darüber sollte man Bescheid wissen.

MOMENT.at: Ihr wisst also nie, ob ihr falsch liegt?

Mitarbeiter:in: Entscheidend ist, ob der Akt wiederkommt. Tut er das nicht, kann man das als gewissen Erfolg werten. In drastischen Fällen führen gegenteilige Gutachten oder Stellungnahmen dazu, dass Kinder mehrfach von einem Wohnsitz zum anderen geschoben werden. Da weiß man dann, dass was falsch gelaufen ist. Eine 100%-ig richtige oder falsche Lösung gibt es aber nicht, es bleibt immer der Versuch einer Annäherung.

MOMENT.at: Und die Richter:innen setzen eure Empfehlungen dennoch 1:1 um?

Mitarbeiter:in: Nicht immer, aber oft. Dabei fände ich es wichtig, dass sie nicht 1:1 umgesetzt werden. Unsere Einschätzung ist zeitlich begrenzt und fokussiert sich auf die Fragestellung des Gerichts. Das ist zwar eine wichtige, aber eben nur eine Quelle.

MOMENT.at: Kann hier wirklich immer zum Wohle des Kindes entschieden werden?

Mitarbeiter:in: Wir versuchen es zumindest. Es spielt aber leider auch eine wichtige Rolle, in welchem Bezirk das Kind wohnt und wie viel die Eltern verdienen. Die Gerichte und die Familiengerichtshilfe – wir sind alle überlastet, aber nicht in allen Bezirken gleichermaßen. 
Der Betreuungsschlüssel von Richter:innen/Bearbeiter:innen zu Bewohner:innen ist im 8. Bezirk nun einmal besser als im 10. Und bei Personen mit wenig Einkommen und schlechten Deutschkenntnissen fallen mehr Fälle an – wohlhabenden Menschen nimmt man nicht so schnell die Kinder ab. 

MOMENT.at: Ein wesentlicher Vorwurf aus unserem Dossier war, dass die Familiengerichtshilfe die gemeinsame Obsorge pusht. Was versteht man darunter?

Mitarbeiter:in: Gemeinsam ist irreführend, eigentlich ist es die Obsorge beider Eltern. Es ist also nicht 50:50, sondern 100:100. Beide Elternteile dürfen bis auf einige Ausnahmen alles bestimmen. Die Maxime geht vom Gericht aus: Die Obsorge beider Eltern sollte der Normalfall sein und ist anzustreben. Wir sollen uns fachlich eine Meinung bilden.

MOMENT.at: Aber würden sich die Eltern verstehen, bräuchte es keine Familiengerichtshilfe und vielleicht gar keine Scheidung. Warum geht man davon aus, dass sie plötzlich gemeinsam im Wohle des Kindes entscheiden können?

Mitarbeiter:in: Egal wie zerrüttet die Familie, sie bleiben die Eltern. Das Ziel ist es, einen Austausch zu finden. Es gibt Fälle, wo ein Elternteil das Kind zur Schule oder zur Impfung anmeldet und der andere es abmeldet. Das wäre Missbrauch dieser gemeinsamen Obsorge und würde dann auch entzogen werden. Ebenso bei Gewalt oder Stalking, auch gegen den anderen Elternteil gerichtet.

MOMENT.at: Im Fall unseres Artikels ist aber genau das passiert: Weil Kontaktrecht und gemeinsame Obsorge das Ziel waren, hat nun der gewalttätige Vater die Obsorge. Wie kann sowas passieren?

Mitarbeiter:in: Beim Thema Gewalt sind wir mittlerweile sehr vorsichtig und hellhörig. 

MOMENT.at: Das klingt, als gäbe es eine Zeit, wo das nicht so war?

Mitarbeiter:in: Von den Frauenhäusern gab es einen Rundumschlag, seitdem sind in meinem Alltag Fortbildungen rund ums Thema Gewalt Agenda Nummer 1. Es ist niederschmetternd, wie oft Gewalt vorkommt. Sie richtet sich überwiegend gegen Frauen, aber nicht nur. Für die Kinder ist miterlebte Gewalt so schlimm wie erlebte Gewalt.

MOMENT.at: Wenn aber die Vorgabe “Kontakt zu beiden Eltern” gilt, in wessen Sinne wird dann entschieden?

Mitarbeiter:in: Wir sind vor allem parteiisch mit dem Kind. Wir haben schon die Vorgabe, dass Kontakt zu beiden Elternteilen wichtig ist. Das Wohlbefinden der Eltern ist uns aber auch wichtig. Es ist eine irrsinnige Belastung für den Elternteil, der Gewalt erfahren hat, meistens die Mutter. Ich würde sagen, früher wurde die gemeinsame Obsorge trotzdem öfter umgesetzt. Es gibt teilweise gerichtliche Entscheidungen, mit dem Stalker eine Mediation zu machen. Das würde heute wohl kaum von uns empfohlen werden.

 

Wir haben viele Rückmeldungen zu unserem Dossier bekommen. Die einen fanden es zu kritisch und unvollständig, die anderen nicht hart genug. Dieses Interview zeigt auch nur einen Ausschnitt aus der Arbeit im Familiengerichtswesen. Aus bisheriger Recherche lässt sich zusammenfassend sagen: 

  • Es braucht ein besseres Verhältnis zwischen Gerichten und Fällen. Und das in allen Bezirken. Jedes Kind und jede Familie hat das Anrecht, dass zu ihrem Wohle entschieden wird. Personalfragen und Wohnadresse dürfen nicht ausschlaggebend sein.
     
  • Je länger ein Verfahren dauert, desto länger belastet es die Familie, finanziell und emotional. Um unseren ersten Artikel zu zitieren: “Kindheit hat ein Ablaufdatum.”
     
  • Es braucht bessere Evaluierungen in der Familiengerichtshilfe. Ihre Einschätzungen dienen dem Gericht als Grundlage, um über Leben zu entscheiden. Für die Gefahr, dass diese unzureichend durchgeführt oder evaluiert werden, steht zu viel auf dem Spiel.
     
  • Gemeinsame Obsorge ist ein Ideal auf dem Papier. In der Realität kann sie zu noch mehr Streitigkeiten unter den Eltern und auch zu Belastungen für das Kind führen. Dann sollte am Ideal nicht zu sehr festgehalten werden.
     
  • Auch wenn das Kind zu beiden Eltern Kontakt haben soll, muss es für eine gute Beziehung zu beiden nicht unbedingt gleich viel sein. Und nicht jeder Elternteil braucht gleich viel Entscheidungsmacht. Sowieso nicht, wenn Gewalt im Spiel ist.

 

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