Gesundheit
Ungleichheit

Für die aus dem Leben Ausgesperrten

Allein in Österreich sind bis zu 80.000 Menschen von der Krankheit ME/CFS betroffen. Seit Beginn der Pandemie schnellen die Zahlen in die Höhe. Die Betroffenen verschwinden oft völlig aus dem öffentlichen Leben. Jetzt organisieren sich Fußballfans, um Solidarität zu schaffen. Und sie haben Forderungen.

Es ist der 8. August, Freitag Abend. Heimspiel beim Wiener Sport-Club in der Regionalliga Ost. Die Spieler betreten das Feld mit einem Transparent. „Cure ME/CFS: Betroffenen glauben”, steht darauf. Am Spielfeldrand solidarisieren sich auch Fans der Gruppe „Tribüne Links Vorne‟ mit ME/CFS-Betroffenen. 

ME/CFS – die Abkürzung steht für Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrom. Dahinter verbirgt sich eine komplexe und schwere Erkrankung des Nerven- und Immunsystems. ME/CFS entsteht meist als  Folge von Infektionen wie Influenza oder  Covid-19. Aber auch Impfungen können ME/CFS auslösen. Die Krankheit  schränkt die Belastbarkeit der Betroffenen drastisch ein. Schon geringe Anstrengungen können dann zu einem sogenannten Crash oder gar einer langfristigen Zustandsverschlechterung führen. 


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Wie viele Menschen an ME/CFS leiden ist schwer zu beziffern. Viele Betroffene haben vermutlich nicht einmal die richtige Diagnose erhalten. Die Schätzungen in Österreich gehen von 26.000 bis 80.000. Sie stammen allerdings noch aus der Zeit vor Corona – seither dürfte sie stark gestiegen sein. 60 bis 75 Prozent aller Erkrankten sind arbeitsunfähig, viele von ihnen sind bettlägerig. Die Chance auf Besserung oder gar Heilung ist gering. Die Forschung hat die Erkrankung lange ignoriert, das Sozialsystem, viele Ärzt:innen und Teile der Öffentlichkeit nehmen sie noch heute oft nicht ernst oder bestreiten gar ihre Existenz. Auf diesen Umstand wollen die Fans der Gruppe „Links Vorne‟ mit ihrer Aktion aufmerksam machen.

„Cure ME/CFS – PVA ist Mittäter‟ steht auf einem Spruchband, das sie in die Höhe halten.  Der Slogan bezieht sich auf eine Aktion vor den Eingangstoren der Pensionsversicherungsanstalt nur wenige Stunden zuvor, bei der ME/CFS-Betroffene und -Unterstützer:innen den Umgang der PVA mit Betroffenen kritisierten. Einige Teilnehmer:innen an dieser Aktion sind jetzt auch beim Spiel dabei.

Für die selbst von der Krankheit Betroffenen unter ihnen ist das kein leichtes Unterfangen. Der Besuch eines Fußballspiels ist ohnehin nur für moderat Betroffene machbar, und auch dies nur unter hohem Risiko. Jede Alltagsaktivität kann einen Crash und eine Symptomverschlimmerung bedeuten. 

Wenn der Stadionplatz leer bleibt

Die Wiener Aktion ist nur eine von vielen, die in den vergangenen Monaten in zahlreichen Fußballstadien des deutschsprachigen Raumes stattgefunden haben. Die Gruppe, die sie koordiniert, nennt sich „Empty Stands‟ – in Anlehnung an die Stehplätze in den Stadien, die leer bleiben, weil ME/CFS-Betroffene an den Spielen ihrer Vereine nicht mehr teilnehmen können. Fans von 40 verschiedenen Vereinen sind laut Angaben von Empty Stands in deren Signal-Gruppe aktiv. 16 Fangruppen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum haben bereits Aktionen durchgeführt. Sie haben etwa während der Spiele  Transparente an den Zäunen im Stadion aufgehängt oder Artikel in den Publikationen der Fangruppen veröffentlicht, um Aufmerksamkeit für das Thema zu schaffen.

Tim (23) und Sonja (35) sind beide im Organisationsteam der Empty-Stands-Kampagne. Tim ist Fan des FC Zürich. „Ich bin regelmäßig ins Stadion gegangen, bis zu meinem Covid-Infekt vor eineinhalb Jahren‟, sagt er. Seitdem hat er ME/CFS. In seiner Jugend trieb er aktiv Sport, spielte in Vereinen Handball und Fußball. Daran ist heute nicht mehr zu denken. „Zumindest für kleine Ausflüge schaffe ich es noch vor die Tür‟, sagt er. Doch mehr ist kaum noch möglich. Wegen seiner Erkrankung musste er wieder bei seinen Eltern einziehen. Sein Studium hat er auf unbestimmte Zeit pausiert. 

Austausch über die Krankheit und den Spieltag

Sonja kommt aus Osnabrück. „Ich habe seit über 20 Jahren eine Dauerkarte beim VFL Osnabrück”, sagt sie. „Meine Krankheit habe ich nach den Covid-19-Impfungen bekommen. Mit jeder Impfung ist es schlechter geworden. Das habe ich lange auf beruflichen Stress geschoben, bis ich ich mit Selbsthilfegruppen in Kontakt gekommen bin.‟ Vor ihrer Erkrankung mit ME/CFS war Sonja sportlich sehr aktiv. „Ich war Leistungssportlerin im Kraftdreikampf und Gewichtheben‟, sagt sie. „Das geht heute alles nicht mehr.‟ Immerhin als Trainerin für Kinder im Judo kann sie wieder arbeiten.

Empty Stands erfüllt für die beiden die Funktion einer Selbsthilfegruppe – und geht doch darüber hinaus. Wie bei vielen klassischen Selbsthilfegruppen dient vor allem eine interne Signalgruppe, in der sich Betroffene austauschen können, als wichtiger unterstützender Halt in einer Welt, die ihre Existenz oft einfach zu vergessen scheint. Doch das gemeinsame Interesse am Fußball sorgt noch für einen besonderen verbindenden Kitt. Der ist auch nötig, da für die allermeisten Betroffenen an einen Stadionbesuch nicht mehr zu denken ist. „Durch die Krankheit geht ein Stück der eigenen Identität verloren‟, sagt Sonja. „Man ist sonst viel mit Freund:innen unterwegs gewesen bei den Spielen, ist weggefahren, vielleicht ins Ausland, um Spiele zu sehen. All das bricht jetzt weg.” Für sie ist es  „der größte, einschneidendste Teil dieser Erkrankung, dass das gemeinsame Erleben fehlt.‟

Dieses gemeinsame Erleben versucht Empty Stands ein Stück weit zu ersetzen, indem sich die Mitglieder der Signalgruppe zumindest online gemeinsam über den Spieltag austauschen können. „Wir versuchen, uns gegenseitig Trost und Nähe zu spenden”, sagt Tim. „Das bedeutet auch, uns nicht nur über die Krankheit auszutauschen, sondern uns auch einfach mal über Fußball zu unterhalten.‟ Auch hier gibt es eine Einschränkung: „An der Signalgruppe kann nur teilnehmen, wer ein gewisses Gesundheitslevel hat. Für schwer Betroffene ist selbst das nicht möglich‟, sagt Tim.

Bewusstsein schaffen

Sonja und Tim bezeichnen sich beide als „moderat betroffen‟. Das heißt, sie können in einem stark eingeschränkten Rahmen am öffentlichen Leben teilnehmen und auch trotz ihrer Krankheit  ein Online-Interview mit MOMENT.at führen. Vielen anderen Betroffenen ist dies nicht möglich. „Wir möchten auch jenen eine Stimme geben, die so krank sind, dass sie niemals so ein Interview führen könnten. Wir wollen die ganze Breite dieser Erkrankung repräsentieren‟, sagt Tim. Dazu gehöre auch, nicht auf die Angehörigen zu vergessen, ergänzt Sonja: „Wenn Betroffene stark pflegebedürftig sind, können sie ihren Alltag nicht mehr alleine gestalten. Sie brauchen dann ihre Familie und ihr Umfeld zur Unterstützung, und auch diese Menschen fehlen dann in den Stadien, auch ihre Plätze bleiben leer‟.

Dass die Behinderung durch ME/CFS nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, sei eine große Herausforderung, sagt Sonja. Als moderat betroffene Person sei sie deshalb oft mit Unverständnis konfrontiert: „Wenn Menschen mich zu Gesicht bekommen, egal ob beim Fußball oder woanders, dann sehen sie mich an den guten Tagen. Und sie sehen nicht, welche Symptome in meinem Körper gerade aktiv sind. Das ist ganz schwer nachzuvollziehen für jemanden, der nicht betroffen ist. Der fragt: Warum konnte sie das heute machen,  aber gestern und vorgestern nicht?‟ 

Für mehr Solidarität in Stadion und Gesellschaft

Früher, sagt Sonja, habe sie gerne gebacken oder gekocht. Das habe sie entspannt. „Wenn ich jetzt backe oder koche, dann sind 20 Prozent meiner Energie verschwunden. Es ist für meinen Körper wie Krieg. Das ist totaler Stress, obwohl ich die gleiche Tätigkeit ausübe. Und es ist gesunden Menschen kaum zu erklären, warum ich mich nach dem Kochen oder dem Duschen hinlegen muss.‟

Bewusstsein zu schaffen für die Krankheit ME/CFS und ihre verschiedenen Formen und Auswirkungen, ist deshalb ein wichtiges Ziel  der Empty-Stands-Kampagne. Ein anderes: das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Betroffenen im Stadion zu schärfen. Hier geht es vor allem um zwischenmenschliche Solidarität, wie Tim erzählt: „Wenn mild betroffene Personen ins Stadion gehen, dann ist das nicht so, wie man es normalerweise kennt, also dass man vorher noch ein Bier trinkt und dann weiter zieht. Betroffene brauchen einen sehr durchgetakteten Tagesablauf.” Auch der Infektionsschutz sei ein wichtiges Thema. „Hier können Leute im Stadion helfen‟, sagt Tim – zum Beispiel, indem sie Betroffene verteidigten, wenn jemand sie blöd anmacht, weil sie weiterhin eine Maske tragen.

Tim und Sonja sehen auch die Vereine in der Pflicht, zur Bewusstseinsbildung beizutragen. Doch der politische Schwerpunkt von Empty Stands liegt derzeit woanders: Die Gruppe  fordert mehr Geld für die ME/CFS-Forschung. Wissenschaft und Sozialsysteme sollen die Erkrankung endlich ernst nehmen. 

Es ist diese Forderung, die in den vergangenen Monaten auf Transparenten in dutzenden Fankurven des deutschsprachigen Raums zu sehen war. Damit die vom Leben Ausgesperrten vielleicht irgendwann ihre Plätze wieder einnehmen können. Davon träumen Sonja und Tim sowie Millionen Betroffene – in Wien, Österreich und weltweit. 

Update 27.8.2025: Der Artikel wurde um Erläuterungen zur Zahl der Betroffenen in Österreich ergänzt. Davor beinhaltete er nur die Untergrenze der gängigen Schätzungen, die noch aus der Zeit vor Corona stammen.


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