Long Covid: “Diese Krankheit ist vielen einfach so fremd”
Im Sommerurlaub vor zwei Jahren hat sich Andrea* mit Covid angesteckt. Sie ist Ende fünfzig, sportlich und eine Leseratte, wie sie selbst sagt.
Von dem Infekt hat sie sich nie mehr erholt. Ihr Hausarzt habe sie damals in letzter Instanz zum Psychiater geschickt. Dabei habe ihr niemand gesagt, wie sie mit ihrer Krankheit wirklich umgehen müsse.
ME/CFS und Long Covid: Was ist das?
“Dann kam der Crash. Jeder Laut hat Schmerz verursacht. Jedes kleinste Geräusch hat körperlichen Schmerz verursacht. Mit dem muss man mal leben können – ohne Aussicht auf Heilung”, erzählt Andrea über die Monate, die sie im Bett verbracht hat.
Andrea hat ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue-Syndrom), das eine Form von Long Covid ist. Was Andrea einen Crash nennt, wird wissenschaftlich als Post Exertional Malaise (PEM) bezeichnet. Es ist das vorherrschende Symptom bei ME/CFS. Die Betroffenen haben oft Konzentrationsstörungen, Schmerzen und leiden an extremer Erschöpfung, sodass sie manchmal tagelang nicht das Bett verlassen können.
ME/CFS ist eine Multisystemerkrankung. Das sind Erkrankungen, die mehrere Organe und Systeme im Körper gleichzeitig betreffen. Oft können Betroffene nicht sagen, woher der Schmerz kommt.
CFS steht zwar für chronisches Fatigue Syndrom, zu Deutsch chronisches Erschöpfungssyndrom. Der Name wird den umfassenden Symptomen aber nicht gerecht. Er führt oft zur Verharmlosung, denn: Die Assoziation mit Müdigkeit hat wenig mit der Müdigkeit einer gesunden Person gemeinsam. “Meine Ärzt:in hat gesagt, dass ich froh sein kann, nach dem nächsten großen Crash nicht im Rollstuhl zu landen,” sagt Andrea.
Wie viele Betroffene es gibt? Man weiß es nicht.
In Österreich schätzt man, dass derzeit circa 36.000 Menschen an ME/CFS erkrankt sind. Obwohl die WHO die Krankheit bereits 1969 anerkannt hat, gibt es bis heute keine ausreichende Forschung dazu.
Genaue Zahlen gibt es nicht. Die 36.000 sind eine ungefähre Berechnung aus Daten anderer Länder. Durch die Corona-Pandemie glaubt man, dass tausende Patient:innen hinzugekommen sind. Auf Nachfrage von MOMENT.at heißt es aus dem Institut für Höhere Studien, dass es dazu noch keine neuen Berechnungen gibt.
Oft scheitert es bereits an der richtigen Diagnose. Denn ME/CFS lässt sich nicht einfach im Blut nachweisen, sondern nur durch den Ausschluss von anderen Krankheiten. “Ähnlich wie bei Parkinson gibt es keine Bio-Marker für ME/CFS. Der Unterschied ist nur: Bei Parkinson glauben dir die Ärzte sofort, dass es sich um eine körperliche Krankheit handelt”, sagt Andrea.
Viel zu zögerliches Handeln im Gesundheitsministerium
Andrea kennt sich mit ME/CFS sehr gut aus. So geht es vielen ME/CFS Patient:innen. Sie informieren sich, soweit möglich, selbst über die Krankheit. Das liegt vor allem an dem Mangel an gesundheitlicher Versorgung.
In Österreich gibt es derzeit kaum Kassenärzt:innen, die ME/CFS Betroffene behandeln. Viele Long-Covid-Spezialambulanzen, die während der Pandemie eröffnet wurden, sind 2023 wieder geschlossen worden.
Im Gesundheitsministerium arbeitet man derzeit an einem nationalen Referenzzentrum. Dieses soll das “Wissen zu postviralen Erkrankungen (…) in Wissenschaft und Praxis” erweitern, heißt es in einem Statement des Gesundheitsministeriums. Eine Anlaufstelle für Betroffene ist es jedoch nicht. Auf Anfrage von MOMENT.at, schreibt das Gesundheitsministerium, dass man gerade mit 57 Expert:innen an einem Aktionsplan für Betroffene arbeitet. Dieser soll voraussichtlich bis zum Sommer fertig sein. Das Gesundheitsministerium braucht hier Zeit, die den Betroffenen fehlt. Während der Bedarf durch die Corona-Pandemie immer noch stark wächst, kann es oft Monate dauern, bis man eine Diagnose bekommt.
Fragt man ME/CFS-Erkrankte, so fallen immer wieder die Namen Kathryn Hoffmann und Michael Stingl. Sie sind zwei der wenigen in Österreich, die sich mit dem Forschungsstand zu Long Covid beschäftigen. Stingl hat eine neurologische Praxis im 9. Bezirk in Wien. Um den Bedarf zu decken, bietet er auf seiner Webseite sogar Telemedizin an. Für schwer Betroffene reicht das nur leider nicht.
Ein Online-Angebot zur Weiterbildung von Ärzt:innen gibt es bereits – von den meisten Kassenärzt:innen scheint es jedoch nicht wirklich wahrgenommen zu werden. Die Versorgung bleibt sehr lückenhaft.
“Ich habe genug andere Patienten”
Darüber klagt auch Evelyn*. Ihre Tochter ist vor vier Jahren mit 36 Jahren an ME/CFS in der Form von Long Covid erkrankt und deshalb wieder zu ihren Eltern gezogen. Sie hat außerdem auch Krebs. Derzeit ist sie zu schwach, um selbst mit uns ein Interview zu führen. Evelyn und ihre Tochter kennen nur eine Wahlärztin, die ihre Tochter behandelt. Aktuell sei diese aber auch selbst krank und bereits für mehrere Monate im Krankenstand gewesen.
Die Odyssee, die die beiden auf der Suche nach einem Arzt oder einer Ärztin bereits hinter sich haben, würde sie nur ungern wiederholen: “Egal ob Neurologe, Kardiologe oder sonst welcher Arzt. Der Standardsatz, wenn es um Long Covid geht, ist: ‘Da kenne ich mich nicht aus. Das interessiert mich auch nicht. Ich habe genug andere Patienten.’”.
Finanzielle und behördliche Hürden kommen dazu
Als wäre das nicht genug, werden Evelyns Tochter auch von den Behörden Steine in den Weg gelegt. Nach einem halben Jahr Krankenstand verlangten die Behörden in Oberösterreich, dass die Tochter zu einem Gutachten in Linz erscheint.
Evelyns Tochter wollte den Termin verschieben. Ihr ging es gerade etwas besser. Patient:innen lernen in Therapien und Reha, wie sie sich ihre Kraft einteilen können. “Pacing” ist ein sehr wichtiger Aspekt im Umgang mit Long Covid. Macht man zu viel, weil es einem kurzzeitig besser geht, kann das dramatische Auswirkungen haben. Oft folgt ein Crash und Betroffenen geht es noch schlechter als zuvor.
Die Behörden haben die Bitte von Evelyns Tochter abgelehnt.
“Danach ging es mit ihr eigentlich nur mehr bergab. Ich denke manchmal: Hätte man das meiner Tochter damals erspart, wäre sie wahrscheinlich heute wieder gesund. Aber das ist den Behörden wurscht”, sagt Evelyn. Derzeit streitet die Tochter um das Reha-Geld vor Gericht. Denn sie lebt mit 1000 Euro pro Monat unter der Armutsgrenze. Die Hälfte davon gibt sie jeden Monat für Therapien und Medikamente aus.
Soziale Netzwerke geben Halt
Andrea hatte letztes Jahr das Glück, eine Reha-Klinik zu finden, in der sich das Personal mit “Pacing” auskennt. Wie sie selbst sagt, hatte sie vor allem aber das nötige Geld für eine solche Behandlung übrig. Und noch etwas hat ihr geholfen: “Ich wäre psychisch nicht in einer so guten Verfassung gerade, wenn ich nicht das Gefühl hätte: Es gibt auch andere.” Mit denen tauscht sie sich ausschließlich auf Social Media aus. Ohne sie würde sich Andrea oft komplett verloren fühlen: “Weil man kann ja kaum irgendwo hingehen. Diese Krankheit ist vielen einfach so fremd”.
Am 12. Mai ist Internationaler ME/CFS-Tag. Am Wiener Heldenplatz werden Demonstrant:innen leere Feldbetten aufstellen. Kevin Thonhofer, Obmann der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS, will mit der Protestaktion “ein Zeichen an Politik und Sozialversicherungsträger setzen”. Jedes Feldbett steht für eine kranke Person, die zu schwach ist, um selbst am Heldenplatz zu stehen. Eines davon steht auch für Evelyns Tochter.
*Namen von der Redaktion geändert