ME/CFS ist eine chronische Erkrankung auch als Folge von Corona: “Es fühlt sich so an, als würde der Körper auseinanderfallen”
Kochen macht Sarah so müde, dass sie sich danach stundenlang hinlegen muss. Ihr Freund hilft ihr beim Duschen, sie selbst ist zu schwach dafür. Seit sechs Monaten wartet Sarah auf einen Rollstuhl von der Krankenkasse, ihre Tante hat ihr jetzt einen gekauft.
Sarah ist 37 Jahre alt. Sie hatte wahrscheinlich im Juni 2020 eine Corona-Infektion. Ganz sicher kann sie sich nicht sein, denn das PCR-Test-System war damals noch nicht flächendeckend ausgerollt. Aber sie hatte damals Symptome und später wurden Antikörper festgestellt. Seither leidet Sarah jedenfalls auch unter Myalgischer Enzephalomyelitis. Die Krankheit wird auch Chronisches Fatigue Syndrom genannt – kurz ME/CFS.
ME/CFS gab es schon vor Corona. Es tritt aber auch als eine Form von “Long Covid” auf – also als eine Langzeit-Folge einer Corona-Infektion. Seit der Pandemie hat sich die Zahl der an ME/CFS Erkrankten deshalb massiv erhöht. Die Ärztekammer spricht von bis zu 35.000 Fällen in Österreich. Es war davor als Folge anderer Virusinfektionen bekannt, wie des Pfeifferschen Drüsenfiebers oder FSME.
Was ist ME/CFS?
Der Neurologe Michael Stingl befasst sich als einer der wenigen Ärzte und Ärztinnen tiefergehend mit ME/CFS. Er erklärt die Erkrankung so: “Der Transport des Sauerstoffs ins Gewebe scheint nicht mehr richtig zu funktionieren. Das führt zu Konzentrationsproblemen, Kopfschmerzen, Erschöpfung, Schwäche, Herzrasen, Muskelschmerzen. Im Grunde fühlt es sich oft an wie eine anhaltende Grippe.”
Obwohl ME/CFS schon länger bekannt ist, ist es nicht genügend erforscht. Auslöser, Verlauf und Therapiemethoden sind unklar. Öffentliche Anlaufstellen gibt es auch nicht: keine ME/CFS-Ambulanzen, kaum Expert:innen, wenig Forschung.
Falsche Diagnosen, junge Betroffene
Viele Betroffene bekommen eine Falschdiagnose, meist vermuten Ärzt:innen eine Depression. “Man macht ein Standardlabor, ein Lungenröntgen, ein Herzecho. Ist das alles unauffällig, dann sagt man: Ja klar, das ist psychosomatisch”, kritisiert Stingl. Für Betroffene sind Termine bei Gutachter:innen der Krankenkassen oft besonders frustrierend. “Da heißt es dann, man bilde sich das nur ein”, erzählt Sarah.
Das Problem dabei: Die Erkrankten bekommen eine falsche Behandlung und die Krankenkassen erkennen Behindertenstatus und Arbeitsunfähigkeit oft nicht an. Von ME/CFS sind viele junge Menschen betroffen. Haben sie bisher wenig oder noch gar nicht gearbeitet, können sie die Leistungen des Sozialstaates nicht in Anspruch nehmen. Konkret kann das bedeuten: Wird der Behindertenstatus nicht anerkannt, bekommen sie weder Arbeitslosen- noch Krankengeld.
ME/CFS ist „als würde der Körper auseinanderfallen“
Etwa zwei Drittel der Erkrankten sind Frauen, viele waren zuvor sportlich und gesund. Auch Sarah: “Vorher war ich leistungsfähig und fit. Nach der Infektion wurde mein Leben viel anstrengender.” Sie hatte immer noch zwei Teilzeitjobs, war selbstständig und auch ein Doktoratsstudium schaffte sie noch irgendwie. Sie arbeitete nun aber stets an den Grenzen ihres Körpers. “Abends sind mir die Beine weggeknickt, ich konnte nicht mehr gut gehen.”
Ein paar Monate konnte sie sich über die Folgen schleppen, aber zu Weihnachten, kam der sogenannte “Crash”: Sarah brach zusammen, verbrachte drei Monate im abgedunkelten Zimmer, konnte sich kaum bewegen. Alles ermüdete sie. Sie konnte nicht arbeiten, keine Freund:innen treffen, nicht kochen, duschen oder sich anziehen. Gedächtnis und Konzentration wurden schlechter, Worte kamen ihr nur noch mühsam über die Lippen, die Muskeln schmerzten. Sarah baute ab. “Es fühlte sich so an, als würde mein Körper auseinanderfallen”, sagt sie heute.
Keine Behandlung ohne ME/CFS-Forschung
Sarah ging von Arzt zu Ärztin, doch niemand konnte ihr helfen. Selbst in einer Long-Covid-Ambulanz riet ihr die behandelnde Ärztin zu einer Bewegungstherapie, obwohl gerade Bewegung bei ME/CFS eine schlechte Idee ist: Körperliche Überanstrengung kann dazu führen, dass sich die Symptome verschlimmern. Darum sollte Betroffenen zu “Pacing” geraten werden: Aktivitäten müssen in einem niedrigen Rahmen bleiben, der Puls darf nicht in die Höhe schnellen.
”Auf Ärztekongressen und im Studium ist ME/CFS kein Thema”, sagt Spezialist Stingl. “Was ich darüber weiß, habe ich mir selbst angeeignet.” Was es in seinen Augen braucht: Bewusstsein für die Krankheit, Aufklärung, Weiterbildung. In der Bevölkerung und unter Mediziner:innen. Denn: “Wenn im Frühstadium der Krankheit mit Pacing und den richtigen Medikamenten begonnen wird, können sich die Symptome in Grenzen halten.”
ME/CFS: “Versorgung ist eines reichen Landes nicht würdig”
Er selbst ist Wahlarzt, zu ihm kann also nur kommen, wer es sich auch leisten kann. Im letzten Jahr hat er etwa 350 Mal ME/CFS diagnostiziert, Tendenz steigend. Die Lage bereitet ihm Kopfzerbrechen: “Die Versorgungssituation der ME/CFS Patient:innen in Österreich ist eines modernen westeuropäischen, reichen Landes nicht würdig.”
Er ist auch nicht optimistisch, dass es in absehbarer Zeit ausreichend spezielle Ambulanzen und Anlaufstellen geben wird, denn: “Interessant wird das Thema erst, wenn es Medikamente und Therapiemöglichkeiten und damit finanzielle Einnahmequellen gibt. Dafür braucht es zuerst aber die Erforschung der Krankheit.” Und hier halte sich das Interesse in Grenzen. Bisher könne man die Symptome lindern, aber nicht bekämpfen.
Die Corona-Schutzimpfung schützt nicht konkret vor Folgen wie ME/CFS. Stingl empfiehlt sie aber in jedem Fall: “Die Schutzimpfung verringert das Risiko einer Corona-Erkrankung enorm und somit auch das Risiko, Long Covid beziehungsweise ME/CFS zu bekommen.”
Hilfe und Forderungen
Im November startete die CFS-Hilfe eine Petition, um die Lage zu verbessern. ME/CFS solle stärker erforscht, darüber geschult, anerkannt, medizinisch besser versorgt und Betroffene abgesichert werden. Flächendeckende Anlaufstellen wären nötig, damit Erkrankte schnellstmöglich die richtige Diagnose und Erstbehandlung bekommen. 27.000 Menschen unterschrieben, davon 20.000 aus Österreich. Die Petition wurde schließlich von der Grünen-Abgeordneten Heike Grebien in einen Parlaments-Ausschuss eingebracht. All das geschah im Windschatten einer offiziellen Petition an das deutsche Parlament, die dort fast 100.000 Menschen unterschrieben haben.
Michael Stingl ist die adäquate Versorgung von ME/CFS-Patient:innen ein wichtiges Anliegen. Er sagt: “Es handelt sich hier oft um junge, leistungsbereite, sportliche Menschen. ME/CFS betrifft nicht nur Leute mit Vorerkrankungen oder ungesundem Lebensstil. Man kann nicht sagen: Die sind ja selbst schuld. Das kann wirklich alle treffen.”
Und Sarah? Sie hofft, dass es ihr irgendwann besser geht. “Und dann möchte ich wieder normal arbeiten und selbstständig sein. Und die CFS-Hilfe unterstützen”, sagt sie. Denn: “Ich wünsche mir für alle Betroffenen Aufmerksamkeit, Akzeptanz, Anlaufstellen und Unterstützung”.