Wie die Corona-Tests in den Schulen Lehrer:innen zum Weinen brachten
Es ist der erste Dienstag nach Schulanfang im September. In der Konferenz brechen die ersten Kolleg:innen in Tränen aus. „Was ist eine CSV Datei? Wie sollen wir das machen? Was heißt umformatieren? Ich kann das nicht!“ Jahrzehnte der vernachlässigten digitalen Kompetenz brechen nun auf sie herein, wie eine Lawine, ein Erdbeben oder ein Tsunami.
Ein neues Schuljahr, ein neuer Herbst, ein neues Chaos. Wie schon im letzten Jahr spüren wir Lehrer:innen, dass die Regierung im Sommer besseres zu tun hatte, als ein funktionierendes Sicherheitskonzept für die knapp eine Million Schüler:innen Österreichs zu erstellen – dürfen ja eh noch nicht wählen.
Jetzt wird gespült. Zweimal wöchentlich über eine Plattform, die für wenige Nutzer:innen täglich konzipiert war. Das Anmelden ist eine Geduldsprobe, jede vierte Anfrage führt weiter. Mit etwas Glück. Dass unsere Schüler:innen mit 10 oder 12 Jahren selten ihre e-card mit sich führen, geschweige denn ihren Reisepass oder Personalausweis, dass viele von ihnen weder Mobiltelefon noch eine funktionierende Kamera haben, sind Nebensächlichkeiten. Wie wir von den Eltern mal die nur in Deutsch ausgesandten Einverständniserklärungen unterschrieben zurückbekommen – unser Problem.
Berufsbeschreibung: Lehre, Betreuung, Nasenbohren
Dass wir im Unterricht nun montags und mittwochs mit drei Kolleg:innen gut zwei Stunden benötigen, um 25 Kindern beizubringen, wie man durch einen Pappstrohhalm in ein Reagenzglas spuckt – wen interessierts?
Klar würden wir die gerne auch mit dem Aufholen der verpassten 1,5 Jahre verbringen, aber längst sind wir keine Pädagog:innen mehr, die sich um die Zukunft des Landes kümmern sollten. Wir sind Betreuer:innen (Lockdown 2 und 3 für die Kinder, die zuhause nicht lernen können), Krankenpflegekräfte (die sich gerne die Naseninhalte der Schüler:innen zu Gemüte führen, Antigentest in 2020/2021) und medizinisches Personal (PCR und Nasenbohrertest Schuljahr 2021/22).
Im Vergleich zu den gut geschützten Testpersonen in Teststraßen und Apotheken stehen wir im Klassenzimmer auf engstem Raum mit zahlenmäßig begrenzten Papierhandtüchern etwas erbärmlich aus. Aber was soll’s? „Wat mutt, dat mutt!“, sagt der Hamburger und wir glauben ihm.
Dateneingabe als Folter
Der Effekt lässt nicht lange auf sich warten. Die meisten Klassenvorstände haben mittlerweile 10-15 ihrer Freizeitstunden geopfert, sieben Daten von 25 Kindern in ein ständig überlastetes System eingegeben:
Name, Adresse – aber bitte ohne Bindestrich und Schrägstrich – doof nur, dass unsere Kinder alle 61-96/41/7 wohnen und die Namen aus Umlauten bestehen
Sozialversicherungsnummer – leider wurde für geflüchtete Kinder irgendwann der 13. Monat eingeführt. Der ist im System zwar nicht auszuwählen, die Kinder sind aber klar stigmatisiert fürs Leben.
E-Mail-Adresse – aber bitte nicht die der Kinder unter 14 Jahren! Doof nur, dass die Eltern oft keine haben!
Postleitzahl, Ort, Geburtsdatum – bitte in Übereinstimmung mit der Sozialversicherungsnummer!
Die Mails, die ich an den Support von Lead Horizon sende, kommen mit „unzustellbar“ zurück, die Dame, die ich irgendwann über die Hotline erreiche, bietet mir sehr freundlich an, dass ich ihr die Datensätze zusenden könne – was mich als Lehrerin aber den Job kosten könnte, da ich Kinderdaten nie weitergeben darf, und zum Geburtsdatumsproblem meint sie: Hm, das habe sie aber noch nie gehört, ich könne ja einfach eines erfinden…. Willkommen in meiner Wirklichtkeit – Mittelschule Wien.
Ein offenbar unerwarteter Ansturm
Fünf Schultage also, sechs positive Fälle, vier Klassen in Quarantäne. Wir testen also weiter. Mal mehr mal minder erfolgreich im Erreichen der Plattform: „Code 428 – Too many requests“! Zu viele Anfragen! Wirklich? Womit habt ihr denn gerechnet? Wenn sich eine Million Schüler:innen, Lehrer:innen und weiteres Bildungspersonal, Schulwarte, Sekretär:innen, Psychagog:innen, Sozialarbeiter:innen gleichzeitig am Montag- und Mittwochmorgen testen lassen müssen…? Und die Schulen im Westen haben zu dem Zeitpunkt noch nicht mal angefangen.
Wir stehen also eine halbe Stunde früher auf, in der Hoffnung, dass um 5:00 Uhr morgens noch ein Slot für uns frei ist. In den Klassen dauert es weiterhin knapp zwei Stunden, die Boxen in der Schule werden um 8:45 Uhr geleert, weshalb wir um 10:00 Uhr zum BIPA um die Ecke hechten….
Ungeimpfte Lehrende „müssen“ heim
Und dann gibt es noch die umgeimpften Kolleg*innen, diejenigen, die beim ersten COVID-19 Fall „Kontaktperson 1“ sind und in Quarantäne müssen, während die Geimpften zur Belohnung in der Schule Stellung halten dürfen. Mit den 2-5 geimpften Kindern …
Wer sich dieses System ausgedacht hat, stand noch nie in einer Klasse. Wer hier zugestimmt hat, ist dem österreichischen Bildungsalltag so fern, wie ein Alm-Öhi einer Kreuzberger Späti-Cornersession. Wie ein Binnensegler einer Atlantiküberquerung.
Ja, wir lernen derzeit in der Schule. Wir lernen, dass wir immer als Letzte drankommen. Dass sich niemand so richtig um die Kinder schert. Dass der Bildungsminister in seinem akademischen Elfenbeinturm jeglichen Bezug zur Realität verloren hat und wir das unseren Kindern erklären müssen. Und die Kinder lernen auch. Dass ihre Lehrer:innen komplett überfordert, überfragt und ausgelaugt sind. Dass die „von oben“ vorgegebenen Konzepte leider nur schwer bis gar nicht realisierbar sind.
Was das mit ihnen macht? Das werden wir in ein paar Jahren sicherlich sehen.
Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.
Über Schulgschichtn: Schulgschichtn ist ein Projekt von drei jungen NMS-LehrerInnen, Verena, Simone und Felix. Sie sagen: „Der gesellschaftliche und politische Diskurs über die Neue Mittelschule (NMS) ist uns zu einseitig, zu negativ, zu destruktiv. Deswegen sammeln wir auf unserem Blog schulgschichtn.com konstruktive Schulgeschichten! Wir bieten einen realistischen Einblick in sogenannte ‚Brennpunktschulen‘ und schaffen eine Plattform, auf der echte ExpertInnen zum Thema Schule zu Wort kommen.‘ Auf dem Blog finden Erfolgs- und Alltagsgeschichten genauso Platz wie das Aufzeigen von Problemen und systemischen Veränderungsvorschlägen. Die besten Geschichten erscheinen monatlich auf MOMENT.