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Gesundheit

Hilfe für Kinder mit psychisch erkrankten Eltern wird in Österreich vergessen

Zu sehen ist ein kleines Kind mit dunkelblonden Haaren, das sein Gesicht verdeckt. Der Hintergrund ist dunkel und leer.
Je länger der Lockdown in Österreich dauert, umso mehr steigen auch die Zahlen psychischer Belastungen. Kinder psychisch erkrankter Eltern sind dadurch umso öfter mit vielen Herausforderungen konfrontiert und dadurch selbst gefährdet. Auf sie wird bei Versorgung und Hilfsangeboten aber zu oft vergessen.

„Geh ja nicht raus“, sagt Mamas Stimme scharf, als Lena (Name geändert) die Tür öffnen möchte. Sie drückt mit einem Arm die Wohnungstüre zu und dreht mit der Hand des anderen Arms den Schlüssel im Schloss um. „Das Haus ist umstellt“, flüstert sie. „Wenn wir hinausgehen, werden sie auf uns schießen“, fügt sie hinzu und Lenas Herz klopft. Heute ist wieder einer dieser Tage, an dem Mamas Warnungen überhaupt keinen Sinn ergeben.

In rund 50.000 österreichischen Familien war vor dem ersten Lockdown zumindest einer der Elternteile psychisch erkrankt, schätzt der Verein “Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter” (HPE). Seit der Corona-Pandemie steigen psychische Belastungen an. Das bedeutet, dass heute in umso mehr Familien Kinder aufwachsen, die mit den Problemen ihrer Eltern überfordert sind. Sie zählen folglich selbst zur Risikogruppe psychischer Erkrankungen. Dennoch werden sie von der Öffentlichkeit oft vergessen und erhalten zu wenig außerfamiliäre Unterstützung.

Lenas Mutter ist bipolar. Sie wechselt zwischen depressiven und manischen Phasen hin und her. Wenn sie depressiv ist, fühlt sie sich oft erschöpft. Dann schläft sie viel und zieht sich zurück. Wenn sie manisch ist, verändert sich ihre Realitätswahrnehmung. Sie hat Wahnvorstellungen und ist verängstigt. Ihre Launen können rasch umschalten. An schlechten Tagen kann sie schon mal sehr wütend werden. Wütend auf Lena, wenn sie am Heimweg von der Schule trödelt. Oder wütend auf Lenas Papa, wenn der in ihren Wahnvorstellungen zum Bösewicht geworden ist. Bewusst sind Lenas Mama ihre Psychosen nicht.

Kinder erleben schwierige Situationen

Die Diagnose, dass ihre Mutter bipolar ist, hat Lena erst erhalten, als sie schon erwachsen war. Heute lebt die 24-Jährige in Wien, wo sie als Journalistin arbeitet und durch die Distanz zum Elternhaus verstehen kann, was in ihrer Kindheit um sie herum passiert ist.

Wann die Erkrankung erstmals aufgetreten ist, weiß Lena nicht. “Als Kind versteht man das oft nicht”, erklärt sie. “Man kennt ja nur seine eigene Familie und hat kein Gefühl dafür, dass etwas falsch ist.” Im vorangeschrittenen Alter sind die Symptome auf jeden Fall schlimmer geworden, ist sie sich sicher. Aber schon, als Lena ganz klein war, hatte ihre Mutter depressive Phasen, in denen sie tagelang im Bett gelegen ist und am Alltag nicht mehr teilgenommen hat. Im Sommer hat sie Lena dann alleine mit ihrem Vater auf Urlaub geschickt und der Dreijährigen beim Abschied ein Stofftier in die Hand gedrückt. Zum Einschlafen, wenn die Sehnsucht nach der Mama zu groß war.

Für Lena war die Situation mit ihrer Mutter nicht einfach. Wenn Mama schrie, hatte Lena Angst. Wenn Mama tagelang schlief, fehlte sie ihr. Wenn Mama Wahnvorstellungen hatte und neben ihrer Wohnungstüre einen Baseballschläger abstellte, oder wenn sie von der Polizei nachhause gebracht wurde, weil sie sich einbildete verfolgt zu werden und bei einem fremden Mann Hilfe gesucht hatte, ist Lena irritiert. Die Situation mit psychisch kranken Eltern ist erschöpfend. Weil man sich ängstlich fühlt und ohnmächtig, untergeben und ratlos zugleich.

Psychische Erkrankung der Eltern oft tabu

Gesprochen wurde in Lenas Familie über die psychische Erkrankung ihrer Mutter für eine lange Zeit nicht. Das ist sehr oft so, erzählt Silvia Franzelin von der HPE. Das führt in weiterer Folge dazu, dass Kinder nicht verstehen, was um sie herum passiert. Dann kommt es neben Ängsten auch zu Einsamkeit, zu Scham- und Schuldgefühlen. Oft beginnen die Kinder dann Aufgaben ihrer Eltern zu übernehmen, erklärt die Expertin. 

Besonders schlimm ist das dann, wenn Kinder mit einem alleinerziehenden, erkrankten Elternteil alleine sind. Dann versuchen die Kinder oft selbst, sich um das Wohlergehen der Elternteile zu kümmern, Geschwister zu betreuen, den Haushalt zu schmeißen oder auch eigene Bedürfnisse zu erfüllen. Das führt zu Überforderung und auch dazu, dass Kinder psychisch kranker Eltern selbst zur Risikogruppe psychischer Erkrankungen werden. Zwei Drittel der betroffenen Kinder entwickeln im Laufe ihres Lebens selbst psychische Auffälligkeiten, sagt Georg Psota, der Leiter der Psychosozialen Dienste in Wien.

Kinder in Folge oft selbst psychisch gefährdet

Das betrifft auch Lena. Als sie ins Gymnasium kam, fühlte sie sich zunehmend überfordert. Ihre schulischen Leistungen und Noten verschlechterten sich. Lena hatte zu viele andere Sorgen, um sich auf den Unterricht zu konzentrieren und sie bekam Ärger mit den LehrerInnen. Lena erzählte ihren Eltern, dass sie Schule wechseln möchte, aber auch die hatten zu viele andere Sorgen, um sich den Problemen ihrer Tochter ausreichend zu widmen. Also nahm Lena die Sache selbst in die Hand und wechselt auf eigene Faust die Schule.

Damit betroffene Kinder sich nicht alleine um ihre Probleme kümmern müssen und lernen, dass sie an der Erkrankung ihrer Eltern nicht schuld sind, ist es wichtig, dass sie Unterstützung außerhalb des Familienhauses erhalten, sagen Franzelin und Psota. Dazu gibt es beispielsweise die “Verrückte Kindheit” der HPE, das Beratungsangebot KIPKE  oder den Verein Jojo. Aber diese Angebote sind klein. Genügend davon gibt es in Österreich bei weitem nicht. Notwendige Folgeangebote sind oft mit Kosten verbunden, die für viele nicht leistbar sind. “Es gibt nichts, das die ganze Landschaft versorgt”, sagt Franzelin.

Kinder psychisch erkrankter Eltern werden übersehen

Für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche wird ab März Betreuung für zuhause angeboten. Aber die Kinder psychisch erkrankter Eltern werden dabei nicht miteingeplant. Für sie gibt es eine Erweiterung von Online-Angeboten wie beispielsweise Chats, aber keinen Ausbau persönlicher Unterstützungsangebote. 

Dabei würden viele betroffene Kinder von solchen Angeboten profitieren. Sie sind mit ihren Problemen im Lockdown in vielen Fällen vollkommen auf sich gestellt. Wenn Mama oder Papa tagelang schlafen, merkt im Lockdown niemand, wie viele Kinder sich selbst ihr Abendbrot zubereiten und sich am Ende des Tages selbst ins Bett bringen. Dabei “geht es bei Kindern psychisch erkrankter Elternteile darum, früh zu helfen, statt spät zu behandeln – damit Menschen trotz und mit psychischen Erkrankungen ‘Kind, Eltern, Familie sein können’, wie alle anderen auch”, sagt Georg Psota. “Vor allem jetzt!”

 
Symbolbild: Kinder beim Turnen. Es ist wichtig, dass Kinder von psychisch erkrankten Eltern viel Zeit außer Haus verbringen. Durch die Corona-Lockdowns ist das oft schwierig.

Es ist wichtig, dass Kinder von psychisch erkrankten Eltern viel Zeit außer Haus verbringen. Durch die Corona-Lockdowns ist das oft schwierig. Foto: Anna Earl/Unsplash

 

Das Ventil fehlt durch den Lockdown

“Es ist wichtig, dass Kinder viel Zeit außerhalb von Zuhause verbringen”, sagt Silvia Franzelin. Nur so haben sie die Chance, das ganz normale Leben zu leben und nicht ausnahmslos mit ihrer Überforderung konfrontiert zu werden. Da helfen etwa Ganztagsschulen, die Unterbringung bei einer Tagesbetreuung oder Aktivitäten mit FreundInnen.

Doch das ist seit der Einführung der Lockdowns schwieriger geworden und führt zu einer ansteigenden Belastung in den Haushalten. “Fehlende Perspektiven, Zukunftsängste, wenig bis kein Kontakt zu Gleichaltrigen und geschlossene Schulen haben unter anderem dazu geführt, dass wir bei Kindern und Jugendlichen einen starken Anstieg von depressiven, Angst- und Stressreaktionen, auch Essstörungen, sowie Suizidalität, sehen”, sagt Psota.

Ein normales Leben mit psychischer Krankheit ist möglich

Depressive Symptome kennt auch Lena. Die hat sie, wie so viele Kinder psychisch erkrankter Eltern, von ihrer Mutter geerbt. Nun ist sie selbst oft lustlos, müde und zurückgezogen. Das ist unangenehm, mit der richtigen Unterstützung aber zu bewältigen. Deshalb nimmt Lena heute Medikamente und geht zur Psychotherapie.

“Was man als Kind psychisch erkrankter Elternteile nämlich auch entwickelt, ist nicht nur ein Bewusstsein dafür, dass psychische Krankheiten existieren, sondern auch, dass sie etwas Normales sind und man mit ihnen auch ein normales Leben leben kann”, lächelt Lena aufmunternd.

Leidest du unter Depressionen, Angststörungen, hast Suizidgedanken oder belastet dich die Corona-Krise sehr? 

Hier findest du die Kontaktadressen der psychologischen Studierendenberatung in allen Bundesländern.

Weiters kannst du dich an die Telefonseelsorge wenden, kostenlos stehen dir Experten rund um die Uhr unter 142 zur Verfügung. Es gibt auch Beratungen über Chat und Mail.

Auch die Experten des Kriseninterventionsteams stehen für eine Beratung von Montag bis Freitag unter +43 1/ 406 95 95 zur Verfügung. Auch hier ist eine anonyme E-Mail Beratung möglich.

Die psychologischen Helpline des Berufsverbandes Österreichischer PsychologInnen ist Montag bis Sonntag, 10 bis 20 Uhr unter +43 1 /504 8000 erreichbar.

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