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Demokratie
Ungleichheit

Hilfe vor Ort: “Österreich ist kein Vorreiter, sondern Schlusslicht”

Hilfe vor Ort: “Österreich ist kein Vorreiter, sondern Schlusslicht”

Die ÖVP wehrt sich gegen die Aufnahme Schutzbedürftiger aus Ländern wie Afghanistan und spricht lieber von „Hilfe vor Ort“. Österreich ist bei der Hilfe vor Ort allerdings kein Vorreiter, sondern Schlusslicht, erklärt Annelies Vilim, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Globale Verantwortung im Gespräch mit MOMENT.

Kürzlich hat sich die Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria gejährt. Inmitten der Machtübernahme der radikal-islamistischen Taliban in Afghanistan. Damals wie heute forderten viele Menschen, Schutzbedürftige in Österreich aufzunehmen. Damals wie heute wehrt sich die ÖVP und spricht lieber von „Hilfe vor Ort“. Im ORF Sommergespräch sprach Bundeskanzler Sebastian Kurz von einem angeblich „überproportional großen Beitrag“, den Österreich leiste. Von Beiträgen dieser Größenordnung kann in Wirklichkeit aber keine Rede sein, erklärt Annelies Vilim, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Globale Verantwortung im Gespräch mit MOMENT.

 
Geschäftsführerin von Globale Verantwortung - Arbeitsgemeinschaft für Entwicklung und Humanitäre Hilfe.

Annelies Vilim ist die Geschäftsführerin von Globale Verantwortung – Arbeitsgemeinschaft für Entwicklung und Humanitäre Hilfe.

Foto: Anna Rauchenberger

MOMENT: Wie gut steht Österreich bei der Entwicklungszusammenarbeit wirklich da?

Annelies Vilim: Österreich ist kein Vorreiter und überproportional würde ich die Beiträge auch nicht nennen. Im Gegenteil. Aus unserer Sicht gehört Österreich zu den Schlusslichtern bei der sogenannten Hilfe vor Ort.

Die eigentliche Frage ist, wo Österreich wirklich vorne liegt. Und da lässt sich wenig finden. Die Zahlen zeigen: Österreich ist weder bei der humanitären Hilfe vorne noch bei der ODA-Quote, bei den Zahlungen an das UN-Flüchtlingswerk, beim World Food Programme oder bei der COVAX-Initiative und auch nicht bei der COVID-19-Hilfe.

Da gehören auch Aufwände wie Stipendien in Österreich für Studierende aus ärmeren Ländern, Kosten von Asylwerber:innen in Österreich, Entschuldungen oder Kredite dazu. Dieses Geld bleibt in Österreich.

MOMENT: Wie viel ist von den Beiträgen, die Österreich leistet, wirklich Hilfe vor Ort?

Vilim: Die setzt sich aus Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe zusammen. International vereinbart ist das Ziel, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) für Entwicklungsleistungen zur Verfügung zu stellen. Österreich lag laut OECD im Jahr 2020 bei 0,29 Prozent.

Die teilen sich auch noch auf in multilaterale und bilaterale Mittel. Die multilateralen Mittel gehen an internationale Organisationen wie UNO oder Weltbank. Sie fließen meist in große Infrastrukturprojekte wie der Bau von Flughäfen oder Straßen, Finanzstrukturen oder Naturschutzprojekte. Die sind natürlich wichtig, kommen jedoch nicht unmittelbar und direkt bei armen Menschen in Not an. Straßen sind nötig, damit Menschen beispielsweise ihre Waren von A nach B transportieren können. Wenn die Menschen jedoch beispielsweise keine Nahrungsmittel auf lokale Märkte bringen können, weil sie keine produzieren können, oder sie kein Trinkwasser haben, dann betrifft sie das direkt und unmittelbar. Das ist es auch, was die meisten Menschen unter Hilfe vor Ort verstehen.

Nur 40% sind bilaterale Mittel. Davon kommen am ehesten jene bei den Menschen vor Ort an, die an den Auslandskatastrophenfonds und die Austrian Development Agency (ADA) gehen. Die ADA setzt die direkten Projekthilfen um, dafür hat sie effektiv etwa 114 Millionen Euro. Der Auslandskatastrophenfonds hat nun 50 Millionen Euro pro Jahr. Abzüglich der Verwaltungskosten bleiben rund 150 Millionen Euro übrig, die aus unserer Sicht direkt bei den Menschen vor Ort ankommen. (Anmerkung der Red.: Das sind rund 0,04% des BNE.)

MOMENT: Was ist mit den anderen bilateralen Mitteln?

Vilim: Von der OECD wird geregelt, was in die ODA-Quote mit eingerechnet werden darf. Da gehören auch Aufwände wie Stipendien in Österreich für Studierende aus ärmeren Ländern, Kosten von Asylwerber:innen in Österreich (im ersten Jahr), Entschuldungen oder Kredite dazu. Auch diese Mittel sind wichtig. Das eine darf aber nicht gegen das andere ausgespielt werden. Fakt ist, dieses Geld bleibt in Österreich.

Bei der humanitären Hilfe gibt Österreich beispielsweise pro Kopf 5,60 Euro aus. Dänemark gibt hingegen das Zehnfache aus.

MOMENT: Was bedeutet denn direkte Hilfe vor Ort genau? Was passiert mit diesen Mitteln?

Vilim: Bei der humanitären Hilfe geht es, wie aktuell in Syrien oder auch in Nachbarländern rund um Afghanistan, um Nothilfe. Da wird das direkte Überleben gesichert. Die Menschen werden mit Lebensmitteln und Wasser versorgt, ihnen werden Sanitäranlagen und Unterkünfte zur Verfügung gestellt. In der Entwicklungszusammenarbeit geht es eher um längerfristige, nachhaltigere Lösungen wie die Herstellung von Ernährungssicherheit, indem lokale Märkte aufgebaut werden, der Ausbau von Gesundheitssystemen oder jetzt auch Impfbegleitprogramme, Bildungsprogramme oder Projekte zur Geschlechtergleichstellung.

MOMENT: Man kann also sagen, Österreich wird besser dargestellt, als es in Punkto Entwicklungszusammenarbeit und Hilfe vor Ort wirklich ist. „Tricksen“ andere vergleichbare Länder da weniger?

Vilim: Ich glaube, dass viele Länder es nicht nötig haben, zu tricksen, weil sie zum Teil viel höhere Ausgaben haben. Österreich hinkt überall ein wenig hinterher und gehört zu den Schlusslichtern. Bei der humanitären Hilfe gibt Österreich beispielsweise pro Kopf 5,60 Euro aus. Dänemark gibt hingegen das Zehnfache aus und auch Schweden 45,70 Euro pro Kopf. Auch bei anderen Beiträgen und in absoluten Zahlen ist es ein ähnlicher Vergleich.

Die Entwicklungspolitik wird häufig kritisiert, dass sie zu wenig Erfolge bringt. Dabei wird die Entwicklungspolitik häufig von anderen Bereichen wie der Steuerpolitik, Handels- oder Agrarpolitik behindert.

MOMENT: Was müsste sich ändern, damit Österreich wirklich ein gutes EZA-Land ist?

Vilim: Das meiste steht eigentlich im Regierungsprogramm. Es gibt da ein sehr gutes und ambitioniertes Kapitel zur Entwicklungszusammenarbeit, in dem beispielsweise eine schrittweise Erhöhung der Entwicklungshilfegelder auf 0,7 Prozent des BNE und eine substanzielle Erhöhung der Hilfe vor Ort festgelegt sind. Das gilt es schlichtweg umzusetzen.

Wichtig: Es wird gerade das sogenannte Dreijahresprogramm der österreichischen Entwicklungspolitik 2022-2024 ausgearbeitet. Dort steht gleich in der Einleitung, dass das ganze Programm vorbehaltlich der budgetären Maßgaben zu sehen ist. Das heißt, wenn es Kürzungen in dem Bereich gibt, kann es nicht umgesetzt werden. Deshalb regen wir eine gesetzliche Verankerung dieser bilateralen Mittel an.

Der dritte Punkt ist Kohärenz. Die Entwicklungspolitik wird häufig kritisiert, dass sie zu wenig Erfolge bringt. Dabei wird die Entwicklungspolitik häufig von anderen Bereichen wie der Steuerpolitik, Handels- oder Agrarpolitik behindert. Ein konkretes Beispiel: Wir haben sehr viel Milch in der EU und dieser Überschuss wird zu Milchpulver verarbeitet und in Länder wie beispielsweise Burkina Faso exportiert. Das führt dazu, dass ein Liter Milch aus diesem Milchpulver der EU wesentlich günstiger ist, als ein Liter Milch, hergestellt von einer Bäuer:innen vor Ort. Das heißt einerseits unterstützen wir mit entwicklungspolitischen Programmen die Milchproduktion und versuchen einen lokalen Markt aufzubauen und mit der Agrarpolitik der EU behindern oder konterkarieren wir dieselben Maßnahmen. Da gibt es viele solcher Beispiele, auch im Steuerbereich. Da sind kohärente Abstimmungen notwendig. Diese stehen übrigens auch im Regierungsprogramm.

Das wären also die wichtigsten Punkte: Das Regierungsprogramm erfüllen, Gelder erhöhen, gesetzliche Verankerung der Gelder und Kohärenz sichern.

 

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