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Ungleichheit

Kindheitsforscher Hüter: „Wir machen unsere Kinder systematisch kaputt!“

Der Historiker und Kindheitsforscher Michael Hüter sieht im derzeitigen Bildungs- und Betreuungssystem ein Totalversagen. An eine politische Bildungsreform glaubt er nicht – er hofft auf  eine Revolution von unten.

 

Der Historiker und Kindheitsforscher Michael Hüter sieht im derzeitigen Bildungs- und Betreuungssystem ein Totalversagen. An eine politische Bildungsreform glaubt er nicht – er hofft auf  eine Revolution von unten.

 

Moment: Sie plädieren in ihrem Buch „Kindheit 6.7“ dafür, alle Kindergärten und Krippen sofort zu schließen. Warum?

Hüter: Weil es zahlreiche wissenschaftliche Beweise dafür gibt, dass hier großer Schaden angerichtet wird. Alle wollen, dass Kinder so viele Kompetenzen so früh wie möglich erlernen, sehr oft wird mit dem Begriff Frühförderung hantiert. Doch zuerst muss sich das Gehirn entwickeln, bevor Kompetenzen erlernt werden können. Jedes Kind ist wissbegierig und neugierig. Doch es lernt ausschließlich von Menschen, zu denen es zuvor eine emotionale Bindung aufgebaut hat. Bei den Betreuungsverhältnissen in den Kindergärten und Krippen ist das aber so gut wie unmöglich. Da wurde einfach das Schulsystem nach vorne ausgeweitet. Lernen funktioniert aber nicht durch Zwang und Druck. Dazu gibt es unzählige Forschungsergebnisse.

 

Moment: Doch viele Eltern würden sich nun empören. Wir haben hier eher das umgekehrte Problem, nämlich dass es zu wenige Kindergarten- oder Krippenplatz gibt …

Hüter: Ja, das ist grotesk. Aber wer sich mit der Geschichte der Kindheit auseinandersetzt, muss ohnehin eine gesamte Zivilisationskritik üben. Das Fatale an der aktuellen Politik ist ja, dass die Familien viel zu wenig Unterstützung bekommen. Eltern stehen unter einem enormen Druck. Sie müssen dasselbe leisten wie Menschen ohne Kinder: Voll arbeiten und nebenbei die Kinder großziehen. Dafür erhalten sie keinen Dank und können sich von allen möglichen Menschen blöd angehen lassen. Kein Wunder, dass die Geburtenrate stetig sinkt!

 

Moment: Sie sind ja generell ein absoluter Kritiker unseres Bildungssystems. Was läuft denn hier so falsch?

Hüter: Das System Schule, so wie wir es heute kennen, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Da ging es erstmal darum aus allen brave Christen und gute Fabriksarbeiter zu machen, die gehorchen und Befehle ausführen. Fehler werden grundsätzlich bestraft. Jeder Mensch kommt als Individuum auf die Welt, doch in der Schule werden zuerst alle gleich gemacht. Kein Wunder, dass am Ende kaputte, depressive und verängstigte und keine innovativen Querdenker herauskommen. Und unter diesem System leiden ja alle! Die Lehrer, die Eltern und natürlich die Schüler. Mittlerweile sagt sogar schon der US-amerikanische Ärzteverband, dass die Schule das Gesundheitsrisiko Nummer eins für Kinder darstellt!

 

 

 
Das schwarz-weiß Foto zeigt Michael Hüter in einem Sessel sitzend.

Historiker und Kindheitsforscher Michael Hüter

Moment: Sie haben ja schon selbst gesagt, dass die Wirtschaft selbst bereits für eine Bildungsreform plädiert, weil viele Firmen mit den Schulabgängern nichts mehr anfangen können…

Hüter: Und darum verstehe ich umso weniger, warum die Wirtschaftsparteien jegliche Bildungsreform abschmettern. Da wird über den Erhalt des Gymnasiums diskutiert, oder dass Eltern bestraft werden sollen, wenn ihr Kind nicht in die Schule geht. Mehr fällt denen nicht ein? Das ist ein absolutes Armutszeugnis! Wenn ich 15 Jahre lang Kinder gleichmache, völlig totes Wissen abprüfe, das ohnehin bald wieder vergessen ist und obendrein jeglichen Fehler mit einer schlechten Note bestrafe, dann kann ich doch nicht erwarten, dass das später kreative Köpfe werden! Ein 17-jähriges Mädchen, das in der Schule stets gute Noten hatte, hat mir nach einer Lesung erzählt, dass ihr ihre Schulzeit heute im Rückblick vorkommt wie ein offener Strafvollzug.

 

Moment: Sie erklären in ihrem Buch ja weiter, dass es ein Fehler ist, die Kinder nicht am echten Leben teilhaben zu lassen. Aber wie soll das gehen?

Hüter: Der Mensch lernt durch Erfahrung und Beobachtung in der echten Welt. Doch wir haben eigentlich Aufbewahrungseinrichtungen geschaffen, um Kinder und Jugendliche von dieser Welt fernzuhalten. Bis zur industriellen Revolution waren Kinder immer im Familienverbund, Bildung und Arbeit waren nicht getrennt. Dann mussten die Eltern an gefährlichen Maschinen arbeiten und von dort an begann die Fremdbetreuung zuzunehmen. Natürlich kann nicht jeder sein Kind mit zur Arbeit bringen, aber es gäbe da schon viele Möglichkeiten. Ich glaube, dass etliche Start Ups hier beginnen werden, innovative Konzepte umzusetzen. Aber wir sind ja keine Kinder mehr in unserem Alltag gewohnt! Die Gesellschaft ist tendenziell kinderfeindlich. Wenn im Zug eine Familie sitzt und das Kind einen Pieps macht, beschwert sich ja sofort jemand.

 

Moment: Wie sieht die ideale Schule ihrer Meinung nach aus?

Hüter: Wie schon der dänische Familientherapeut Jesper Juul gesagt hat: Es gibt nicht die eine ideale Schule. Es muss verschiedene Formen geben. Mindestens acht oder mehr. Denn der Mensch ist eben ein Individuum. Für ein Kind kann eine Montessori-Schule gut sein, ein anderes kommt mit diesem System aber gar nicht klar. Ich bin ein großer Fan der demokratischen Schule. Da wird alles verhandelt und nichts festgelegt. Die Kinder müssen nicht mal hingehen, haben aber durchaus weniger Fehlstunden als in einer normalen Pflichtschule. Die haben generell einen tollen Output, die Schüler haben ein besseres Allgemeinwissen. In Österreich gibt es solche Schulen noch gar nicht, in Israel aber schon viele. Das klingt jetzt für viele unvorstellbar: Aber es gibt wirklich Schüler, die weinen, wenn die Schule vorbei ist und die Ferien beginnen. Grundsätzlich sollte Lernen Freude bereiten.

 

Moment: Solche Konzepte haben aber höchsten hierzulande als Schulversuch eine Chance …

Hüter: Eine Revolution muss immer von unten ausgehen. Von oben ist noch nie eine gekommen. Ich glaube, dass sich regional Eltern, Lehrer und Direktoren zusammentun und solche Initiativen starten werden. Es muss ein wertschätzender Dialog eintreten, die Menschen müssen sich auf Augenhöhe begegnen, aber auch das wurde verlernt. Es muss auch hier eine absolute Schulautonomie herrschen! Schulen sollten die Möglichkeit haben, eigene Prioritäten zu setzen. Eine Schule in Hall in Tirol wird dann vielleicht ganz anders aussehen, als eine Schule im Stadtgebiet von Linz. Es ist ja genug Geld da, das fließt nur in eine Richtung, nämlich zur Wirtschaft. Aber das sollte Eltern und Schulen endlich einmal zur Verfügung gestellt werden! Es gibt viel kompetente Leute – und die sollte man einfach mal machen lassen! Es wird nicht von heute auf morgen ein neues Schulsystem geben, aber wir müsse anfangen. Und wir müssen aus Fehler lernen, als immer nur Schuldzuweisung zu betreiben. Aber wir müssen dringend damit aufhören, die wenigen Kinder, die wir noch haben, in einem System zu verheizen, dass sowieso nicht aufrecht zu erhalten ist.

 

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