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Ungleichheit
Demokratie

Klassenjustiz? Wieso Arme eher ins Gefängnis gehen und Reiche viel Geld sparen

Ronen Steinke spricht über Klassenjustiz. Am Foto zu sehen sind zwei gezeichnete Fäuste.
Deutschlands Gerichte verstärken Klassenunterschiede, wie Ronen Steinke in seinem neuen Buch beschreibt. Foto: Jon Tyson/Unsplash
Vor dem Gesetz sind alle gleich? Nein, schreibt Jurist und Journalist Ronen Steinke in seinem Buch über Klassenjustiz in Deutschland. Schritt für Schritt erklärt er, wie arme Menschen härter bestraft werden, während reiche Leute es sich immer wieder richten.

Wir haben für dich die 5 wichtigsten Fakten aus „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ von Ronen Steinke zusammengefasst:

#1 Wer nicht zahlen kann, landet im Gefängnis

Wer einmal ohne Fahrschein im Bus gesessen ist, hätte im Gefängnis landen können. Ja, wirklich. In der Praxis passiert das nur armen Menschen. Denn wer ohne Fahrschein unterwegs ist und die Geldstrafe nicht zahlen kann, dem droht eine Ersatzfreiheitsstrafe.

In Deutschland sitzen deshalb rund 10 Prozent der Menschen im Gefängnis bloß ihre Schulden ab. Meistens geht es um ein paar Hundert Euro Strafe. Die meisten Gefangenen, die wegen einer Verwaltungsstrafe in Haft landen, leben von Hartz IV.

Während die Gesamtzahl der Menschen im Gefängnis seit rund 20 Jahren sinkt, steigt die Zahl jener, die eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen müssen. Steinke schreibt, dass die Ersatzfreiheitsstrafe sogar die häufigste Form der Freiheitsstrafe in Deutschland geworden ist.

Das bedeutet: Die meisten Menschen, die in Haft müssen, haben keine schlimmen Taten begangen. Sie sind bloß arm.

In Österreich gibt es das System der Ersatzfreiheitsstrafen auch. Im Jahr 2019 wurden laut BMI 4.447 Ersatzfreiheitsstrafen verbüßt. Nur im Gegensatz zu Deutschland sind diese Strafen hierzulande kaum Thema.

 

#2 Reiche sparen sich eine Menge Geld

Während arme Menschen wegen Geldstrafen im schlimmsten Fall ins Gefängnis müssen, sparen Reiche gutes Geld. 80 Prozent aller Strafen sind mittlerweile Geldstrafen, die Gerichte haben aber kaum Einblick in das Einkommen der Beschuldigten. Davon profitiert vor allem, wer ein hohes Einkommen hat.

Eigentlich sollen Geldstrafen gleichermaßen wehtun, egal wie viel Geld man zur Verfügung hat. Deswegen werden sie anhand von Tagessätzen berechnet, die je nach Einkommen unterschiedlich hoch sind. In der Praxis funktioniert das schlecht. Das hat mehrere Gründe:

Das Vermögen. Wer am Existenzminimum lebt, kann nicht sparen. Wer viel Geld verdient, hat meist auch viel auf der Seite. Wohlhabende Menschen bezahlen Geldstrafen von ihrem Ersparten. Arme Menschen müssen den Gürtel noch enger schnallen. Wer etwa am Existenzminimum lebt, fällt durch eine Geldstrafe automatisch darunter, egal wie niedrig diese scheinen mag. Ärmere Menschen sind also von vornherein stärker betroffen.

Die Berechnung. Gerichte haben kaum Einblick ins Einkommen der Beschuldigten. Sie dürfen nicht auf die Daten des Finanzamts zugreifen. Beschuldigte müssen ihre Gehälter nicht offenlegen. In 63,5 Prozent der Fälle hat das Gericht in Deutschland überhaupt keine Informationen zur wirtschaftlichen Lage der Beschuldigten. Dann wird das Einkommen geschätzt. Steinke zitiert eine Staatsanwältin: „Ich gucke die Adresse an, ist das eine Plattenbausiedlung oder eine Gegend mit lauter Einfamilienhäusern?“

Wenn sie keine Anhaltspunkte findet, dann legt sie den Tagessatz zwischen 30 und 40 Euro fest. Für Hartz IV-Bezieher:innen ist das viel zu hoch. Für Besserverdiener:innen ist das ein schönes Geschenk. „Je größer das Einkommen ist, desto größer wird in diesem Moment die Erleichterung sein“, schreibt Steinke in seinem Buch.

#3 Kein Geld für den Anwalt? Pech gehabt

Eine alte Frau hat Kerzen im Wert von 4,99 Euro gestohlen. Für den Adventkranz. Es ist nicht das erste Mal, dass sie stiehlt. Achtmal wurde sie dabei erwischt, Kleinigkeiten aus dem Supermarkt mitgehen zu lassen. Sie ist halbseitig gelähmt, Pensionistin, hat nur wenig Geld zu Verfügung. Aber weil sie immer wieder stiehlt, gilt sie für die Justiz als „unbelehrbar“ und fasst eine empfindliche Geldstrafe aus: 30 Tagessätze.

Einen Anwalt oder eine Anwältin steht der Frau nicht zur Seite. Obwohl viele glauben, dass der deutsche Staat Menschen mit wenig Geld eine Pflichtverteidigung bereitstellt, ist das oft nicht der Fall. Pflichtverteidiger:innen werden erst gestellt, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr droht.

Im Falle der Pensionistin, die Kerzen gestohlen hat, ist das nicht der Fall. Sie muss sich also selbst verteidigen.

Das hat messbare Auswirkungen. Wer genug Geld hat, um sich auch bei kleinen Delikten eine Anwältin zu holen, hat bessere Chancen auf einen Freispruch. 26 deutsche Richter:innen untersuchten die eigenen Prozessakten. Wenn Beschuldigte Verteidiger:innen hatten, wurden sie in 7 Prozent der Fälle freigesprochen. Wenn nicht, gab es kaum Freisprüche.

Doch auch die Art der Verteidigung hat einen Einfluss. Laut Steinke legen Studien nahe, dass privat bezahlte Anwält:innen mehr bringen. Das wundert nicht. Pflichtverteidiger:innen bekommen deutlich weniger Geld und haben demnach weniger Zeit, sich in den Fall einzuarbeiten. Auch das führt dazu, dass arme Menschen eher im Gefängnis landen.

#4 Du bist arm? Ab in Untersuchungshaft

Noch bevor sich das Gericht mit der Schuldfrage auseinandersetzt, muss es eine Entscheidung treffen. Bleibt der oder die Beschuldigte auf freiem Fuß oder wird sie sofort eingesperrt? Nur drei Prozent landen tatsächlich in Untersuchungshaft. Sie ist also die Ausnahme.

Besonders oft betrifft das aber arme Menschen, Wohnungslose oder solche, die in einem Asylverfahren sind.

Ein Beispiel: Ein Mann aus Gambia wird dabei erwischt, Drogen zu verkaufen. Es geht um zwei Mal 0,6 Gramm Cannabis. (Die Droge ist mittlerweile in manchen US-Bundesstaaten legal und auch die deutsche Regierung hat angekündigt, den Konsum zu entkriminalisieren.) Was dem Mann vorgeworfen wird, klingt wie eine Lappalie. Doch das Gericht entscheidet: Er muss in Untersuchungshaft.

Die Verhältnisse dort sind schlechter als in der Strafhaft. Insass:innen sitzen oft 23 Stunden am Tag in der Zelle. Es gibt kaum Programme zur Beschäftigung oder Freiheiten. Besuch ist nur eingeschränkt möglich.

Wieso also muss ein Mann wegen einer kleinen Menge Cannabis in U-Haft? Das Gericht begründet das laut Steinke damit, dass der Verdächtige keinen festen Wohnsitz habe und vorrangig vom Sammeln von Pfandflaschen lebe. Kurz gesagt: Er ist wohnungslos, hat keinen Job, ist arm.

Die Justiz hat Sorge, dass Verdächtige untertauchen. Das führt zu einer auffälligen Ungleichbehandlung zwischen Arm und Reich: Untersuchungshäftlinge haben zu 50 Prozent keinen festen und angemeldeten Wohnsitz. Mehr als ein Drittel hat keinen Schulabschluss. 61 Prozent sind ohne regelmäßige Arbeit.

Laut Steinke legt eine Studie nahe, dass gerade Wohnungslose in U-Haft genommen werden. Die Begründung: Für diese Gruppe seien die negativen Folgen eines Aufenthalts im Gefängnis geringer als für Menschen mit „bürgerlichem“ Leben.

Bei den Menschen, die in U-Haft landen, handelt es sich nicht unbedingt um potenziell gemeingefährliche Täter:innen. Das zeigt das Beispiel mit dem Mann aus Gambia. Insgesamt liegen bei mehr als einem Drittel der U-Häftlinge keine Gewalttaten vor. Oft gehe es lediglich um Straftaten wie Diebstahl oder Unterschlagung, schreibt Steinke.

#5 Arme Leute sind vor Gericht plötzlich Berufsverbrecher

Ein Mann klaut sechs Packungen Eis aus dem Supermarkt im Wert von rund 36 Euro. Seine Strafe? Vier Monate Gefängnis, ohne Bewährung.

Der Grund für die hohe Strafe liegt an seinem Plan, was er mit dem Eis vorhatte. Eine Packung wollte er für sich behalten, die restlichen wollte er verkaufen und mit dem Erlös Drogen kaufen. Dass der schwer drogenkranke Mann die Ware weiterverkaufen wollte, macht ihn vor Gericht zum „gewerbsmäßigen“ Täter, also zum Berufsverbrecher. Als solcher wird er deutlich härter bestraft.

Das liegt auch daran, dass er arm ist. Für die Strafe ist nämlich wichtig, wie hoch der Warenwert im Verhältnis zum Einkommen ist. Würde ich als angestellte Journalistin sechs Packungen Eis stehlen, wäre der Wert im Vergleich zu meinem Lohn unerheblich. Weil der angeklagte Mann aber wohnungslos ist und kein Einkommen hat, sind die 36 Euro relevant. Die Strafe ist härter, weil er weniger hat.

„Nur im Angesicht der Armut entstehen Strafen, die auf einen Schlag derart erhöht werden, nur im Angesicht der Armut entscheidet das Gericht sich hier für eine Freiheitsstrafe“, schreibt Ronen Steinke.

Sichtbar wird diese Ungerechtigkeit auch bei Sozialbetrug. Steinke berichtet von einer internen Regel in Berlin. Sie besagt, dass ab 1.000 Euro Sozialleistungsbetrug bei Hartz IV Freiheitsstrafen drohen. Wer aber Steuern hinterzieht, muss erst ab 100.000 Euro Angst um die eigene Freiheit haben.

Der Schaden von Steuerbetrug ist nicht nur in den Einzelfällen, sondern insgesamt deutlich höher. Steuerbetrug kostet die Allgemeinheit in Deutschland 50 Milliarden Euro. Hartz-IV-Betrug macht nicht einmal 60 Millionen aus.

#6 Was nun?

Ronen Steinke fordert mehr Geld für die Justiz. Denn wenn sie gut ausgestattet ist, bleibt mehr Zeit, um sich mit den Lebensumständen der Beschuldigten zu befassen. Er schlägt außerdem vor, allen Menschen ab dem Ermittlungsverfahren Pflichtverteidiger:innen zur Seite zu stellen.

Um zu verhindern, dass arme Menschen aus Geldnot im Gefängnis landen, soll sich Deutschland ein Vorbild an Schweden nehmen. Dort gibt es ebenfalls Ersatzfreiheitsstrafen. Doch bevor Menschen ohne Geld im Gefängnis landen, klären Richter:innen auf: Kann die Person nicht zahlen oder will sie nicht? Nur, wenn sie sich weigert, kommt Haft infrage. Das komme nur selten vor.

 
Zu sehen ist das Cover des Buchs: "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz" von Ronen Steinke.

Ronen Steinke ist Jurist, Autor und Journalist bei der Süddeutschen Zeitung. Seit Jahren recherchiert er zu Justizskandalen. „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ ist sein neuestes Buch. Davor veröffentlichte er „Terror gegen Juden“ und „Der Staat gegen Fritz Bauer.“

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