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Ungleichheit

Bergkarabach: Ein nie enden wollender Konflikt, der Menschenleben kostet

Bergkarabach: Ein nie enden wollender Konflikt, der Menschenleben kostet
Sonja Schiffers erklärt den Konflikt von Bergkarabach im Interview (c) Heinrich Böll Stiftung
Ende September eskalierte der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan erneut. Aktuell herrscht Waffenstillstand. Wie zuletzt nach dem Krieg vor drei Jahren. Zehntausende Menschen flüchten nun aus dem umkämpften Gebiet Bergkarabach. 25 kamen ums Leben. Eine kurze Einordnung:

Was ist los in Bergkarabach?
Seit langem gibt es Konflikte zwischen Armenien und Aserbaidschan, in den vergangenen 30 Jahren sogar zwei Kriege. Ende September gab es erneut militärische Aggressionen von Seiten Aserbaidschans. Aktuell herrscht Waffenstillstand. Zehntausende armenisch-stämmige Menschen fliehen aus der Region. Sie fürchten das autoritäre Regime in Aserbaidschan und suchen Schutz in Armenien. 

Wem gehört Bergkarabach?
Bergkarabach ist völkerrechtlich gesehen eine Region in Aserbaidschan. Weil der größte Teil der Bewohner:innen aber armenische Wurzeln hat, sieht sich auch Armenien für sie verantwortlich. Historisch erhob es ebenfalls Anspruch auf die Region.

Die Expertin und Leiterin des Regionalbüros Südkaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung Sonja Schiffers erklärt im Gespräch mit MOMENT.at worum es in dem Konflikt geht und warum es so schwer ist, eine Lösung dafür zu finden.
 

MOMENT.at: Wie kam es dazu, dass der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan vergangene Woche neuerlich eskaliert ist?

Sonja Schiffers: Also der Konflikt ist ja schon relativ alt und erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgebrochen. Wurde dann aber durch die Entstehung der Sowjetunion unterdrückt und ist dann wieder mit dem Ende der Sowjetunion richtig eskaliert. 

Dann kam es Anfang der 90er Jahre zum ersten Bergkarabach Krieg. Den konnte Armenien für sich entscheiden. Als es dann die Oberhand im Konflikt hatte, wollte es auch keine Kompromisse mit Aserbaidschan eingehen. 

MOMENT.at: Jetzt haben sich die Machtverhältnisse zwischen Aserbaidschan und Armenien gedreht?

Schiffers: Aserbaidschan hat in der Zwischenzeit mithilfe seiner Öleinnahmen aufgerüstet und sich dann entschieden, Nägel mit Köpfen zu machen. 

2016 gab es dann eine größere Eskalation und 2020 den zweiten Bergkarabach-Krieg. Damit konnte Aserbaidschan seine Kontrolle über große Teile der Gebiete wiederherstellen – aber eben nicht über das gesamte Bergkarabach. Danach gab es Friedensgespräche mit europäischer und amerikanischer Beteiligung. Die brachten aber keine Ergebnisse. Armenien hat zwar große Schritte Richtung Aserbaidschan gemacht, inklusive der Anerkennung Bergkarabachs zu Aserbaidschan. Gleichzeitig hat es aber  immer Forderungen nach Garantien für die Rechte und Sicherheit der Bergkarabach Armenier gestellt, weil Aserbaidschan ein autoritärer Staat ist. 

Diese Forderungen hat Aserbaidschan immer abgelehnt. Und irgendwann hat es sich dann entschieden, noch einmal militärisch Nägel mit Köpfen zu machen. Seit Dezember gab es ja schon die Blockade des Latschin-Korridors [Anm.: der schmale Korridor verbindet Bergkarabach mit Armenien], aber auch da haben sie gemerkt, dass sie nicht weiterkommen. Woraufhin sie beschlossen haben, die militärische Aggression zu forcieren. 

MOMENT.at: Von wem geht der Konflikt aus?

Schiffers: Die aktuelle Eskalation und auch die von 2020 gehen ganz klar von Aserbaidschan aus. Der Konflikt an sich ist aber ein größerer und längerer Konflikt, bei dem beide Seiten nicht bereit waren, Kompromisse einzugehen. Was man aber vielleicht aus armenischer Perspektive insofern verstehen kann, da Aserbaidschan ein autoritärer Staat ist. Ein Kompromiss aus armenischer Sicht hätte bedeutet, dass sich die Bergkarabach-Armenier in einen Staat integrieren, der weder die Menschenrechte seiner eigenen Bevölkerung achtet noch glaubhaft machen kann, dass er jene der Bergkarabach-Armenier gewährleisten wird.

MOMENT.at: Wer lebt in Bergkarabach?

Schiffers: Schon zur Zeit des Zerfalls der Sowjetunion lebten in Bergkarabach hauptsächlich Armenier. Allerdings wurden dann auch die Aserbaidschaner, die noch dort lebten, durch den ersten Bergkarabach Krieg vertrieben. Hunderttausende Aserbaidschaner wurden zu Geflüchteten und erfuhren sehr viel Ungerechtigkeit. Diese Ungerechtigkeit ist real, wird durch die aserbaidschanische Regierung aber auch bis heute politisch instrumentalisiert.

MOMENT.at: In den 1990er Jahren wurde die Republik Bergkarabach beziehungsweise Arzach ausgerufen. Die internationale Gemeinschaft erkennt diese aber nicht an. Warum ist das so? 

Schiffers: Es gab mit dem Zerfall der Sowjetunion verschiedene Gebiete, die für ihre Unabhängigkeit kämpften. Bei Bergkarabach hat aber nicht einmal Armenien selber Bergkarabach als unabhängigen Staat und auch nicht als Teil Armeniens anerkannt. Warum hätte dann die internationale Gemeinschaft Interesse daran gehabt, Bergkarabach anzuerkennen? Grundsätzlich versucht man auf diesem Spannungsfeld von nationaler Souveränität und territorialer Integrität nicht zu sehr die territoriale Integrität von Staaten infrage zu stellen. Sonst würde es in ganz vielen Staaten auf der Welt zu weiteren Abspaltungen kommen. Wenn die Rechte und die Sicherheit der Menschen nicht ganz akut bedroht sind, versucht man da vorerst nicht einzugreifen. Und Armenien hatte ja mit dem Sieg des ersten Bergkarabach Kriegs eine gewisse Sicherheit für die armenischstämmige Bevölkerung geschaffen. So war die Frage der internationalen Anerkennung sozusagen nicht zwingend. 

MOMENT.at: Aktuell herrscht in Bergkarabach Waffenstillstand. Trotzdem fliehen Tausende Menschen Richtung Armenien. Droht ihnen Gewalt, wenn Aserbaidschan das Land kontrolliert?

Schiffers: Im zweiten Bergkarabach Krieg 2020 kam es zu sehr vielen Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen an ZivilistInnen. Nicht nur, aber vor allem von aserbaidschanischer Seite. Und deswegen und aufgrund jahrzehntelanger gegenseitiger Hasspropaganda ist zu befürchten, dass es zu Gewaltexzessen kommen würde. Aserbaidschan versichert natürlich, dass es nicht dazu kommen wird. Aber aufgrund des langjährigen Konflikts ist von armenischer Seite kein Vertrauen da. 

Jetzt haben schon knapp 50.000 Menschen Bergkarabach verlassen. Das ist schätzungsweise etwa die Hälfte der sich zuletzt dort befindlichen Bevölkerung. Und es scheint so, dass auch wirklich ein Großteil gewillt ist auszureisen. Die armenische Regierung versucht aber weiterhin, sich dafür einzusetzen, dass Menschen dort bleiben können, wenn sie es möchten, und dass ihre die Rechte zumindest grundlegend geschützt werden. 

MOMENT.at: Wie steht es um die humanitäre Hilfe für die Geflüchteten?

Schiffers: Armenien hat vor ein paar Tagen verlautbart, dass es Kapazitäten für 40.000 Menschen schaffen konnte. Es gab auch Zusagen der EU für humanitäre Hilfe im Wert von 5 Million Euro. Auch die USAID, die US-amerikanische humanitäre Hilfsagentur, hat rund 11,5 Millionen Dollar Unterstützung zugesagt.
Das Problem ist aber, dass es bislang es keinen freien Zugang zur humanitären Hilfe nach Bergkarabach gibt. Auch nicht für internationale Hilfsorganisation. Da muss man jetzt abwarten, ob dann nur in Armenien geholfen werden kann oder auch in Bergkarabach selbst.

MOMENT.at: Welche Rolle spielen andere Staaten in dem Konflikt?

Schiffers: Russland spielt eine sehr ambivalente Rolle. In den 1990er und 2000er Jahren war es der Hauptakteur im Konfliktmanagement zwischen Armenien und Aserbaidschan im Rahmen der Minsker Gruppe der OSZE. Die westlichen Akteure haben damals darauf vertraut, dass Russlands Einfluss die Region vor einer größeren Eskalation bewahren würde, und selbst nur punktuell und selektiv Ressourcen für eine friedliche Konfliktlösung investiert
Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan wollen Russland jetzt, nachdem es seit 2020 „Friedenstruppen“ vor Ort hat, eigentlich nicht mehr dort haben. Aber Russland hat Interesse dort zu bleiben, um auch Einfluss auf die armenische und aserbaidschanische Regierung nehmen zu können. Es gibt auch Spekulationen darüber, dass Russland sich auch dafür einsetzt, dass Armenier in Bergkarabach bleiben können, damit es eine Legitimation hat, selber auch dort zu bleiben. 
Armenien wiederum ist sehr enttäuscht, weil Russland de facto ja nichts getan hat, um die gewaltsame Vorgehensweise in Bergkarabach zu verhindern. Man geht auch davon aus, dass der aserbaidschanische Angriff mit Russland abgesprochen war.

MOMENT.at: Welche Rolle spielt die Türkei?

Schiffers: Die Türkei arbeitet schon seit Jahrzehnten sehr eng mit Aserbaidschan zusammen. In Form von Verteidigungskooperationen, militärischen Beratern und Waffenlieferungen. Diese Unterstützung gab es 2020 und die gab es sicherlich auch in der aktuellen Eskalation. 

Die Rolle der Türkei ist aber vor allem auch eine politische. Erst kürzlich hat Erdogan betont, dass es einen Handelskorridor zwischen Armenien der Türkei und Aserbaidschan geben muss. Davon würde die Türkei wirtschaftlich stark profitieren. Die Sorge ist aber, dass die Türkei auch weitere Aggressionen von Aserbaidschan gegenüber den Armeniern unterstützen würde. Der aserbaidschanische Präsident zündelt da in den letzten Tagen auch weiter. Es besteht die große Sorge, dass mit Bergkarabach der Armenien-Aserbaidschan Konflikt nicht beigelegt sein wird, sondern dass Aserbaidschan noch mehr Ansprüche hat – zum Beispiel eben einen solchen Handelskorridor in der südarmenischen Region Sjunik.

MOMENT.at: Es ist als in Zukunft mit weiteren Auseinandersetzungen zu rechnen? 

Schiffers: Man kann es jedenfalls nicht ausschließen.

MOMENT.at: Wie könnte man weitere Eskalationen des Konflikts verhindern?

Schiffers: Um das zu verhindern, müsste ganz klar Druck von der EU und den USA auf Aserbaidschan ausgeübt werden. Auf weitere Aggressionen müsste man mit Sanktionen reagieren, die jetzt schon vorbereitet werden sollten. Das wurde bislang vermieden.

Was Bergkarabach angeht, ist die Frage, wie jetzt die Gespräche zwischen den lokalen de facto Autoritäten von Bergkarabach und Aserbaidschan voranschreiten. Es gab zwar die Niederlegung der Waffen und die Auflösung der Bergkarabach- Truppen, aber einige Dinge blieben bis jetzt noch ungeklärt. Es kommt letztendlich darauf, ob Fragen aus aserbaidschanischer Sicht offen bleiben. Wenn ja, kann man nicht ausschließen, dass weiterhin militärischer Druck ausgeübt wird. 

MOMENT.at: Was wäre eine Lösung für den Konflikt aus ihrer Sicht? 

Schiffers: Das ist eine sehr schwierige Frage. Wenn Aserbaidschan eine Demokratie wäre, dann wäre es vielleicht tatsächlich eine gute Lösung, Bergkarabach in Aserbaidschan zu reintegrieren. Mit der Voraussetzung, dass die Rechte und die Sicherheit der Menschen dort gewährleistet sein würden. Da es aber keine Demokratie ist und in den letzten Jahren kein Vertrauen geschaffen wurde, existiert eigentlich keine gute Lösung.

In der Realität, in der wir uns in den letzten Monaten befanden, wäre, die beste Lösung wäre gewesen, wenn es zu einer OSZE- oder UN-Mission in Bergkarabach gekommen wäre, die die Sicherheit armenischen Bevölkerung hätte gewährleisten können. Aber dem hat sich Aserbaidschan verwehrt. Aus Sicht der EU hätte man früher über eine härtere Politik gegenüber Aserbaidschan nachdenken sollen. Aber das ist leider nicht passiert. Stattdessen hat man versucht, rein über Mediation in irgendeiner Weise ein gegenseitiges Einvernehmen zu kreieren. Das hat aber nicht funktioniert, weil beide Seiten seit vielen Jahren auf ihren Standpunkten beharren.

Jetzt gibt es keine gute Lösung mehr. Es geht darum, Worst-Case-Szenarien zu vermeiden. Armenisch-stämmige Menschen, die in Bergkarabach leben wollen, sollten das auch weiterhin tun können und der Westen sollte alles dafür tun, auf die Gewährleistung ihrer Rechte zu drängen. Aber ein Großteil der Menschen flieht, und wichtig ist jetzt deshalb auch, dass diejenigen, die ausreisen möchten, humanitär versorgt werden und diesen Menschen mittelfristig ein gutes Leben in Armenien ermöglicht wird. 

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