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Krisenpflege: Wo Kinder in Not aufgefangen werden

Krisenpflege: Wo Kinder in Not aufgefangen werden
Kathrin Raab mit Krisenpflegekind. Foto: Elisabeth Bauer
Für Krisenpflegeeltern ist ihre Tätigkeit nicht wirklich ein Beruf, vielleicht sagen manche, es ist eine Berufung. Fest steht, dass es Teil des Lebens ist, das sie führen. Fest steht auch, dass die Stadt Wien dringend mehr von ihnen braucht.

Kathrin Raab steht mit einem zappelnden Baby am Arm in ihrer Wohnung und fragt, ob wir uns ins Wohnzimmer setzen wollen. Sie verschwindet im dunklen Gang. Von dort stehen die Türen zu hellen, bunten Kinderzimmern weit offen. Im Wohnzimmer legt sie das Kind auf eine Decke, die über dem Teppich ausgebreitet ist. “Mario* ist jetzt fast ein Jahr alt”, sagt Raab, während Mario freudig gluckst. Eigentlich deutet alles auf eine ganz normale Familie hin. 

Ganz selbstverständlich sagt Raab auch: “Er ist mein 17. Kind.” 

Raab und ihr Mann haben nicht nur eine leibliche Tochter und einen Langzeit-Pflegesohn. Sie arbeitet seit vier Jahren auch als Krisenpflegemutter. Seit es die Möglichkeit gibt, ist sie dabei auch in einem Angestelltenverhältnis. Das ist vor allem finanziell für das Paar eine Entlastung, da ihr Mann davor das Einkommen allein gestemmt hat.

Was machen Krisenpflegeeltern?

Krisenpflegeeltern sind dazu da, Babys und Kleinkinder im Alter von bis zu drei Jahren aus Notsituationen zu helfen. Sie wissen vorher nichts über das Kind, das sie bei sich aufnehmen. Der Anruf für ein neues Kind kommt immer plötzlich. Innerhalb weniger Stunden steht dann die Sozialarbeiter:in danach vor der Haustüre und übergibt es. Viel Zeit zur Vorbereitung bleibt da nicht. 

Wer einen sechsmonatigen Kurs bei der MA 11 besucht und am Ende eine Akkreditierung macht, ist Krisenpflegeperson. Das sind in Wien Frauen, genauso wie Männer. Man muss dafür in keiner Partnerschaft sein. Wenn man aber in die Krisenpflege anstatt in die Langzeitpflege möchte, muss man entweder schon ein Kind haben oder eine entsprechende pädagogische Ausbildung.

Der große Unterschied zur Langzeitpflege ist, wie der Name schon verrät, die Dauer: Die Kinder bleiben ein paar Wochen, höchstens aber ein dreiviertel Jahr bei den Krisenpflegeeltern. Danach werden sie entweder in die Langzeitpflege, in einem Wohnheim oder an die Eltern übergeben. Meistens vergeht nach dem Abschied keine Woche, bis Raab dann das nächste Kind betreut.

Mehr als die Hälfte der betroffenen Kinder in Wien werden aufgrund von Vernachlässigung aus ihren Familien genommen. „Ich habe schon Zweijährige gehabt, die wussten nicht, wie man einen Turm baut oder was ein Kinderspielplatz ist“, sagt Raab. Manchmal scheinen ihre wichtigsten Aufgaben ganz selbstverständlich. „Für Krisenpflegekinder ist es ganz wichtig, dass es regelmäßig Essen gibt”, hat Raab gelernt. „Ich hab das als Mama zuerst unterschätzt.“

Krisenpflegegruppe entstand aus einer Notsituation

In Wien gibt es zur Zeit 30 bis 35 Krisenpflegeeltern. Das sind nicht genug. „Konkret suchen wir bis Ende des Jahres 100 Langzeit-Pflegeeltern und 10 für die Krisenpflege“, sagt Ingrid Pöschmann von der Kinder- und Jugendhilfe (MA 11). Ihr Ziel ist es, langfristig alle Kinder in Krisenpflegefamilien unterzubringen. 

Immer wenn das nicht gelingt, kommen die Kinder stattdessen in eine Krisenpflegegruppe. In Wien gibt es eine Krisenpflegegruppe, in der 18 Betreuer:innen arbeiten. Die Wohneinrichtung für Krisenpflegekinder existiert seit fünf Jahren. Bis zu sechs Babys und Kleinkindern können da rundum betreut werden. Der sechste Platz sollte nach Möglichkeit immer frei bleiben. Aber oft geht sich das nicht aus. Das System ist ausgelastet. „Wir waren eigentlich meistens sehr ausgebucht“, sagt Sarah Boigner. Sie hat als Krisenpflegerin die Krisengruppe mit aufgebaut und vier Jahre dort gearbeitet

Die Entscheidung, ob ein Kind in die Gruppe oder zu Kriseneltern kommt, ist meistens eine Frage der Verfügbarkeit. Die Arbeit zwischen Gruppe und Eltern unterscheidet sich natürlich. „Als Betreuerin in der Gruppe kannst du zwar eher ‘Pause’ machen, weil du immer nach Hause gehst nach der Arbeit. Anstrengend ist es aber trotzdem.“ Die Dienste werden nach Schicht verteilt. Es kann zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Kind dazu kommen. „Es kann auch passieren, dass du mitten in deinem Nachtdienst ein neues Kind bekommst“, sagt Boigner.

Gründe und Lösungen für den Pflegemangel

Krisenpflegeeltern bekommen Geld und werden angestellt. Das Modell dazu war in Wien lange zu unattraktiv. Vor zwei Jahren wurde es angepasst. Die Krisenpflegeeltern bekommen jetzt 1500 Euro netto pro Monat und 1172 Euro Krisenbetreuungsgeld. Letzteres deckt die Verpflegung für das Kind. Dazu können 500 Euro Prämie für jedes weitere Kind kommen. In den anderen Bundesländern gibt es ähnliche Regelungen. Jedes Bundesland bestimmt selbst, wie hoch die Beträge ausfallen. 

Es ist aber nicht nur eine Frage des Geldes, sondern vor allem der Zeit. Ingrid Pöschmann glaubt, dass viele Interessenten auch von dem Aufwand abgeschreckt sind zunächst. Die MA 11 arbeitet an einer besseren Unterstützung. Das bedeutet etwa kurzzeitige Entlastung, indem beispielsweise eine andere Person für einen Nachmittag die Pflege übernimmt. Infoabende, auch informelle Treffen mit Pflegeeltern und Interessierten. Pöschmann will in Zukunft auf solche privaten Runden setzten, meint sie. Schließlich findet der Job auch dort statt: im Privaten. 

Man weiß nicht, was Kinder durchlebt haben

„Es hat sich schon herauskristallisiert, dass wir eher Kinder auch in Krisenpflegegruppe geben, die doch einen höheren Bedarf mit sich bringen“, sagt Pöschmann. „Möglicherweise war die Mama drogenabhängig, das Baby war auf Entzug. Wir wissen, dass diese ersten Monate irrsinnig fordernd sind.“ 

Sarah Boigner sieht das anders. In einer Gruppe zu sein, „kann für viele Kinder gut passen und für viele Kinder auch wiederum gar nicht.“ Kinder, die zum Beispiel einen Entzug durchmachen, müssen in manchen Fällen mit einem Monitor überwacht werden. Dafür kommen auch nur Krisenpflegepersonen infrage, laut Boigner. Denn bereits im Krankenhaus muss der Monitor einer verantwortlichen Person erklärt werden. 

Kathrin Raab geht etwa zu vielen Arztterminen mit ihrem Krisenpflegekind Mario*. Er ist schon längere Zeit bei ihr. Sie sorgt sich, dass es schwerer wird, für ihn eine Langzeit-Pflegefamilie zu finden. Meistens entwickeln sich Kinder aber dann besonders gut, wenn sie die Stabilität in einem Zuhause erleben, meint Raab. „Man kann jetzt gar nicht sagen: Dieses Kind hat einen Drogenentzug und deswegen wird eine Behinderung haben. Oder dieses Kind hat jetzt Alkohol in der Schwangerschaft bekommen und man wird gar nichts merken. Ich glaube, Pflegekinder sind irgendwo auch ein Überraschungspaket.“

Fällt es schwer, sich von den Kindern nach einigen Wochen und Monaten wieder zu trennen? Von allen Kindern vor Mario haben Raab und ihr Mann Fotos und Handabdrücke. Zur Erinnerung. „Wir brauchen das als Ritual, um uns zu verabschieden“, sagt sie. Trotzdem ist sie damit im Reinen: „Für mich ist das in Ordnung, wenn ich weiß: Dem Kind geht es jetzt besser als damals, als ich es bekommen habe. Ich könnte mir nicht mehr vorstellen, eines der Kinder länger zu behalten, weil ich denke: Es gibt so viele Kinder, denen es nicht gut geht. Die brauchen mich dringender. Ich will sie lieber bei mir wissen, als in einer Krisenpflegegruppe.“ 

 

*Name von der Redaktion geändert

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    Kommentare 1 Kommentar
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  • frizzdog
    13.06.2024
    tolle und wichtige arbeit. endlich wird darüber auch etwas geschrieben!
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