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Gesundheit

Marcos Nader: „In der Volksschule wird kein richtiger Turnunterricht angeboten“

Marcos Nader mit Kindern beim Boxtraining. Er fordert die tägliche Turnstunde in der Volksschule.
Marcos Nader mit Kindern beim Boxtraining. Er fordert die tägliche Turnstunde in der Volksschule. (C) BounceTheFitnessZone
Sport ist gesund, aber es mangelt in der Schule an passenden Angeboten. Österreichs Aushängeschild in Sachen Boxen, Marcos Nader, kritisiert, dass vor allem in der Volksschule kein richtiger Turnunterricht angeboten wird. Er hofft, dass sich endlich etwas tut.

Eine wichtige Grundlage für ein gutes Leben ist Bewegung. Leider ist das ein Thema, das in Österreich viel zu kurz kommt. Wer nicht gerade Fußball spielt oder ein Talent auf zwei Brettern an den Füßen hat, tut sich schwer. Die tägliche Turnstunde wäre enorm wichtig, damit Kinder von Anfang an lernen, wie sie sich bewegen können und was ihnen gefällt, um Lust und Freude am Sport zu entwickeln.

Der 1990 geborene Topboxer Marcos Nader weiß das und kennt noch weitere Pluspunkte über Gesundheit hinaus. Sport ist mehr als nur eine Freizeitbeschäftigung. Er schafft Selbstbewusstsein, man lernt spielerisch ein gewisses Maß an Disziplin und letztlich spielen die Sportvereine auch eine Rolle in der Integration. Besonders die Kids – vom Stiefkind Schulsport bis zu Integration – liegen ihm am Herzen. Im Interview mit MOMENT.at erklärt er, was falsch läuft und was sich ändern muss.

MOMENT.at: Die älteste Aussendung, die eine tägliche Turnstunde fordert und die ich gefunden habe, stammt aus dem Jahr 1998. Mittlerweile ist es 2023 und es gibt Pilotprojekte. Was macht das mit dir?

Marcos Nader: Es stimmt mich traurig und nachdenklich zugleich. Der Mehrwert, den der Sport für unsere Gesellschaft bietet, ist ganz klar und allseits bekannt. Im Alter von sechs bis zehn Jahren erlernen Kinder Bewegung und bilden ihre Fertigkeiten aus. Nicht nur, dass wir sicherlich mehr Kinder, Jugendliche und später dann Erwachsene in die Sportvereine bekommen, es hat auch den Vorteil, dass die Gesellschaft im Allgemeinen gesünder ist oder wird. So wird das Gesundheitssystem entlastet.

MOMENT.at: Welche Rolle spielen die Vereine generell? Wenn die Kinder in der Schule zu wenig Sport machen, müssen sie ja irgendwo Sport machen.

Nader: Verein steht für „vereinen“, „eins werden“, also etwas zusammenbringen. Vereinsarbeit ist eine sehr wichtige Institution. Das Ziel sollte meiner Meinung nach sein, dass die Schulen ein fundiertes Sportprogramm anbieten und danach die Kinder den Sport in einem Verein weiter ausüben. Wenn aber Kinder ein Schulunterricht keinen Sport machen oder nie damit in Berührung kommen, werden diese auch nicht zu den Eltern gehen und sagen, dass sie beispielsweise in einen Fußball-, Handball-, Lauf- oder Boxverein gehen möchten. Gesellschaftlich erfüllt der Sportverein aber auch sonst wichtige Funktionen, die Kindern und Jugendlichen einen Mehrwert bieten. 

MOMENT.at: Welchen Mehrwert meinst du? Dein Verein ist ja in Ottakring, viele Kids haben Wurzeln außerhalb Österreichs.

Nader: Sportvereine machen viel mehr für eine erfolgreiche Integration als vieles anderes. In den Kampfsportvereinen werden Eigenschaften wie Selbstvertrauen, Willensstärke, Fairness, Mut, Respekt, Höflichkeit und vor allem Disziplin geschult bzw. entwickelt. Das sind Eigenschaften und Werte, die man nicht nur im Sport, sondern auch im echten Leben benötigt, um gut durchzukommen und erfolgreich zu werden. Ich möchte zudem nicht nur unseren Verein ansprechen: Ich kann mit ruhigem Gewissen behaupten, dass 90 Prozent der Kampfsportvereine in Österreich viel für die Gewaltprävention machen.

 

Boxer Marcos Nader im Ring.

Boxer Marcos Nader im Ring.
(C) FRB Media / Christopher Blank

 

MOMENT.at: Wie wichtig ist es aus deiner Sicht, dass Kinder einen Sportverein finden, vielleicht gar nicht so sehr wegen des Sports oder der Sportart an sich. Welche „soziale Rolle“ spielt ihr in Ottakring?

Nader: Eine sehr große. Sportvereine machen so viel für die Gesellschaft. Egal ob für Kinder – die mir besonders am Herzen liegen – oder für Erwachsene. 

Erstens Integration: Die aktive Mitgliedschaft im Sportverein in der Jugend trägt zur Eingliederung in die Gesellschaft bei. Lieber ein gerader, sportlicher Weg als die schiefe Bahn. Und hier meine ich nicht nur den Leistungssport, sondern genauso den Breitensport. Das gilt nicht nur für Jugendliche allgemein, sondern aufgrund der Aktualität besonders auch für geflüchtete Menschen. Wichtig ist, dass jugendliche Geflüchtete nicht nur unter sich bleiben. In Sportvereinen kommen viele Menschen aus verschiedenen Länder und Kulturen zusammen, die sich aber allesamt an einen Trainingsethos und Regeln halten müssen.

Zweitens Selbstvertrauen: Eine Steigerung des Selbstwertgefühls kann man bei allen ausmachen, ganz besonders aber bei jungen Mädchen. Vereinssport wirkt sich extrem positiv aus, vor allem auf die Psyche. Das zeigt sich beim organisierten Sport deutlicher als beim Sport allein. 

Und schließlich drittens Sozialisierung: Die Mitgliedschaft in einem Verein macht Spaß und bringt soziale Unterstützung mit sich. Man findet neben dem Sportsbuddy auch Leute, mit denen man sich austauschen kann, es entstehen Freundschaften. Der Trend zum Training in Fitness-Studios geht zwar ebenfalls in diese Richtung, kann aber das nur zum Teil erfüllen.

MOMENT.at: Mit welchen Themen kommen die Kinder, Jugendlichen und Co zu euch, die über den Sport hinaus gehen. Welche gesellschaftspolitischen Probleme siehst du generell in deiner Arbeit?

Nader: Viele Mädchen und Buben kommen mit einem Funkeln in den Augen zu uns und sagen uns, dass sie Weltmeister werden wollen. Wir bzw. mein Bruder, der für den Leistungssport zuständig ist, sagen ihnen immer, dass man sich ein Ziel nicht zu hoch setzen kann. Es ist aber mehr nötig, um oben zu stehen. Das Ziel unserer Vereinsarbeit ist es, jugendliche Mädchen und Buben für den Leistungssport zu gewinnen. Oft geht das aber nicht, weil die Eigenschaften des Sportlers dann einfach nicht zum Boxer passen. Hier muss man dann auch sehr sensibel sein.

Viele kehren dem Sport im Allgemeinen den Rücken, wenn sie bemerken, dass Leistungssport nichts für sie ist. Dann sperren sie sich wieder zu Hause ein und sitzen nur vor dem Computer. Es ist schön, wenn wir als Verein Europa-, Weltmeister oder Olympiasieger rausbringen –  aber viel wichtiger ist es für uns im Team, Menschen und vor allen Kinder für den Sport zu gewinnen. Wir wollen sie motivieren und dadurch einen großen Anteil haben, damit sie ein gesundes und selbstbewusstes Leben führen. Das ist auch das Hauptthema der Eltern: Sie wollen ihre Kinder für die Bewegung motivieren und das Selbstvertrauen durchs Boxtraining stärken.

 

Kinder beim Boxtraining.

Kinder beim Boxtraining.
(C) BounceTheFitnessZone

 

MOMENT.at: Wer kommt generell nicht zum Boxen? Was wisst ihr über die Kids, die nicht kommen (wollen)?

Nader: Ich sage mal so. Wenn Kindern etwas spielerisch gezeigt bzw. angeboten wird, gefällt ihnen vieles. Wenn dann einige Kinder dabei sind, kommt es zu einer Gruppendynamik, wo es dann nach ein-, zweimal jedem Kind bei uns gefällt. Wir holen die Kinder da ab. Nur da müssen sie erstmals in den Verein kommen. Wenn Eltern sie nicht bringen, weil sie selber der Meinung sind, Sport ist sinnlos, werden sie auch keinem Verein beitreten. Schwierig ist es zudem bei Kindern, die sich nie bewegt haben, weil zum einen in der Volksschule kein richtiger Turnunterricht angeboten wird und die Eltern sich nicht um ein fundiertes Sportangebot abseits des Schulunterrichts kümmern.

MOMENT.at: Was sind aus deiner Sicht die Hauptprobleme in der Schule? Müsste man hier „alles aus einer Hand haben“, sitzen die falschen Personen an den Schaltstellen? Es ist ja nicht so, dass unser Bildungssystem sonderlich fair oder auch „erfolgreich“ wäre …

Nader: Wer im Endeffekt schuld ist, dass Dinge nicht so laufen, wie sie es sollten, kann ich nicht sagen. Als einfach denkender Sportler/Trainer/Staatsbürger finde ich es wichtig, dass regelmäßiger Sport schon ab dem Kindergarten in spielerischer Form angeboten wird. Wir leben in einem der besten Länder der Welt. Wirtschaftlich und sozial stehen wir ganz oben, dieses Jahr wurde Wien wieder in der Rangliste der Economist-Gruppe zur lebenswertesten Stadt gewählt. Da muss es doch möglich sein, dass ausgebildete Sporttrainer den Unterricht gestalten. Das muss doch leistbar sein für ein Land wie Österreich. Ich denke, dass dadurch die Qualität gesteigert wird und die Trainer es schaffen, Kinder langfristig für den Sport zu motivieren!

MOMENT.at: Dein Klub Bounce hat rund 1.000 Mitglieder. Könnten es noch mehr sein, wenn Österreich der Sport nicht ziemlich egal wäre oder nur dann wichtig ist, wenn jemandem eine Goldmedaille um den Hals gehängt wird?

Nader: Es benötigt sehr, sehr viel Eigeninitiative, um Mitglieder in den Verein zu bekommen. Mein Bruder und ich sind schon jahrzehntelang bei allen möglichen Sportveranstaltungen, etwa beim Tag des Sports, bei Straßenfesten und mehr. Wir nutzen jede Gelegenheit, bei der wir den Sport – und da vor allem Boxen – promoten können und dürfen. Einfacher wäre es natürlich, wenn wir eine sportlichere Gesellschaft hätten. Mit unserem Klub sind wir aber trotzdem zufrieden. Nach unseren Bounce Fight Nights haben wir immer wieder sehr viele Anfragen fürs Probetraining. Ich denke aber, dass davon vor allem andere Boxvereine in Österreich profitieren, wenn Boxen auf ORF Sport + gezeigt wird.

 

Marcos Nader mit einer Gruppe junger Boxer:innen.

Marcos Nader mit einer Gruppe junger Boxer:innen.
(C) BounceTheFitnessZone

 

MOMENT.at: In Österreich gibt es keine „nationale Sportstrategie“, umgekehrt waren 2019 mehr als ein Drittel der Österreicher:innen übergewichtig, ein weiteres Sechstel adipös, Männer sind von Übergewicht deutlich betroffener als Frauen (Zahlen: Statistik Austria). Bei Achtjährigen sind in Österreich (seit Jahren stabil) laut Untersuchungen rund 25% übergewichtig oder adipös. Siehst du einen Zusammenhang?

Nader: Fakt ist, dass in der Schule viel zu wenig über die Ernährung unterrichtet und berichtet wird. Kindern etwas zu erzählen, ist schon ein guter Anfang. Kochen und das Essen zubereiten machen aber die Eltern. Wir haben in unserer Vereinsarbeit, dass Eltern oft selbst kein Wissen über gute, gesunde Ernährung haben. In unserem Schulprojekt „Boxen x Schule“, das wir in einigen Schulen durchführt wird, bieten wir am Elternsprechtag eine Ernährungsberatung an.

MOMENT.at: Wie können wir, nach all dem besprochenen, die Perspektive verbessern?

Nader: Sport und Bewegung muss in unseren Alltag integriert werden. Von klein auf muss das erlernt werden, von der täglichen Bewegungseinheit im Kindergarten bis hin zur Volksschule, Gymnasium, Mittelschule und so weiter. Das wichtigste Alter, um die Fähigkeiten zu schulen und Fertigkeiten zu stärken, ist im Alter zwischen sechs und 10 Jahre. Wenn in diesem Alter regelmäßig Sport betrieben wird, werden die Kinder den Drang haben, sich mehr zu bewegen und dadurch die Angebote der vielen tollen Sportvereine in Österreich zu nutzen.

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