Neue Untiefen im Bildungskarenz-Skandal
Die nervenaufreibende Odyssee zahlreicher Betroffener mit dem AMS zieht sich seit Monaten. Sie sind fast ausschließlich junge Mütter und sie werden aufgefordert, das für ihre Bildungskarenz erhaltene Weiterbildungsgeld zurückzuzahlen. Es geht um Beträge zwischen einigen Tausend und über 20.000 Euro. MOMENT.at berichtete.
Knackpunkt sind die Bedingungen an die Kurse, damit den Teilnehmer:innen Weiterbildungsgeld zusteht. Dazu gehörte, dass mindestens 25 Prozent der Kurszeiten in einem “seminaristischen Setting” erfolgen mussten. Wer sich fragt, was genau das heißen soll, ist dem Kern des Problems schon auf der Spur.
Laut AMS ist ein “seminaristisches Setting” so definiert, dass Lehrer:in und Lernende:e gleichzeitig anwesend sein müssen und miteinander interagieren sollen – optional auch über Videochat. Eine Art Klassenzimmer. Nur: Die Betroffenen beklagten, dass ihnen diese Bedingung zu keinem Zeitpunkt mitgeteilt wurde.
Unverständlich ist auch, wieso das AMS die Kurse überhaupt genehmigte. Denn wer eine Bildungskarenz antritt, braucht nicht nur eine vorübergehende Freistellung von seinem Unternehmen, sondern muss sich die Karenz auch vorher vom AMS bewilligen lassen. Das Weiterbildungsgeld wird dann gleich wie das Arbeitslosengeld berechnet.
Chaos am Rücken der Kurs-Teilnehmer:innen
Die Stellungnahme des AMS damals: Das Institut SITYA (es wurde nicht vom AMS beim Namen genannt) soll falsche Angaben auf den Anmeldeformularen für seine Kurse gemacht haben. Deswegen habe das AMS die Kurse zuerst genehmigt, sich später aber gezwungen gesehen, das ausgezahlte Weiterbildungsgeld zurückzufordern. Nur: Ausbaden muss das ganze Chaos weder das Institut noch das AMS. Die Kurs-Teilnehmer:innen müssen das Weiterbildungsgeld zurückzahlen.
Das Ganze nahm seinen Anfang in Niederösterreich. Mittlerweile meldeten sich aber weitere Betroffene auch aus anderen Bundesländern. Und es geht längst auch um Kursteilnehmer:innen anderer Institute. Sie organisieren sich über eine Facebookgruppe (“Plattform Bildungskarenz”). Einen Überblick über die Anzahl der Betroffenen haben sie selbst nicht mehr. Auch das AMS gibt keine Auskunft. Laut einem Bericht des Privatsenders LT1 wurden allein in Oberösterreich von 400-500 Menschen Nachweise über die Kurse angefordert worden. In Niederösterreich gebe es bereits 50 ausgesandte Rückforderungen.
Die Ausweitung des Skandals
Eine der Betroffenen ist Elsa Schmitt*. Ihr Englisch war nicht gut genug, das merkte sie im Job immer wieder. Um ihre Sprachkenntnisse aufzubessern, ist sie seit Ende 2023 in Bildungskarenz und hat einen Kurs beim Institut Zickerts begonnen. Ein sinnvoll scheinendes Unterfangen. Doch jetzt wurde das Weiterbildungsgeld eingestellt.
Vom Institut erfuhr sie: Das AMS Oberösterreich interpretiere die Regeln seit kurzem anders. Die bisher geltende Bewertung der Kurse von Zickerts wurde verändert. Das Institut nehme deshalb mittlerweile auch keine neuen Schüler:innen mit Weiterbildungsgeld aus Oberösterreich auf. In anderen Bundesländern seien keine Probleme mit der Anrechnung der Kurse durch das AMS bekannt. Schmitt aber ist dennoch mit der bedrohlichen Aussicht konfrontiert, über 11.000 Euro zurückzahlen zu müssen.
(Update 9.10.2024: Nach dem Erscheinen unseres Artikels musste Schmitt schließlich einen anderen Kurs bei einem anderen Institut belegen, um diese Rückzahlung zu vermeiden und das Weiterbildungsgeld nach einmonatigem Entfall wieder zu erhalten. Auch nach dem Wechsel gab es vom AMS aber vorerst keine endgültige Klärung, ob sie die bis dahin erhaltenen über 11.000 Euro doch noch zurückzahlen würde müssen. Das AMS erwarte dazu einer Weisung des Wirtschaftsministeriums.)
Wie bei den anderen Betroffenen wurde auch Schmitts Kurs ursprünglich vom AMS genehmigt. Wie die anderen Betroffenen hat auch sie jegliche Aufklärung über Pflicht-Anwesenheitszeiten durch das AMS vermisst.
AMS-Empfehlung schützt vor Strafe nicht?
Paula Eschenbach* hat bereits zwei Kurse bei SITYA absolviert. (Eine mehrmalige Bildungskarenz ist mit drei Jahren Abstand möglich.) Kurz nachdem sie den dritten gebucht hatte, erhielt sie eine Nachricht vom AMS. Darin wurde sie informiert, dass die Kurse (Online-)Präsenzzeiten beinhalten mussten und darauf geprüft wurden. Weil ihr Kurs diese Bedingung nicht erfüllte, stornierte sie ihn. Das AMS riet, einen anderen Kurs zu suchen. Das bereits erhaltene Geld muss die Mutter von vier Kindern zurückzahlen.
Das AMS habe Eschenbach außerdem das Institut Laudius empfohlen, wo sie ihren neuen Kurs buchte. Die Gestaltung des Kurses war im Vorhinein nicht ersichtlich. Auf eine Anfrage antwortete das Institut ihr, wenn sie einmal pro Woche ihr Hausübungen abgibt, brauche sie keine Präsenzzeit einzuhalten. Sie bekam vom Institut ein Anmeldeformular nach dem Muster des AMS, auf dem sie nur ihren Namen eintragen musste und wie viele Stunden pro Woche sie für den Kurs aufwenden kann. Sie zeigte es dem AMS. Das genehmigte den Kurs.
Institut pausiert Aufnahme von Bildungskarenz-Gänger:innen
Später teilte ihr das AMS mit, dass auch ihr aktueller Kurs geprüft wurde. Darauf, ob mindestens 25 Prozent der Kurszeit als (Online-)Präsenzunterricht abgehalten werden. Wenn nicht, müsse sie auch das für den Kurs erhaltene Weiterbildungsgeld zurückzahlen.
Laudius, also das Institut, zu dem Eschenbach gewechselt hat, nimmt übrigens derzeit keine Kursteilnehmer:innen für die Bildungskarenz mehr auf. In einer diesbezüglichen Kundmachung auf der Instituts-Website heißt es, das diene dem Schutz der Teilnehmer:innen. Seit Juli gäbe es laufend Änderungen für die Bildungskarenz, über die gegensätzliche Aussagen getroffen würden. Laudius will sich bis auf Weiteres nicht näher zu der Situation äußern.
Die lehrenden Institute wissen genauso wenig
Das Institut SITYA war das erste in der aktuellen Causa, das überprüft wurde und dessen Kursteilnehmer:innen das Karenzgeld zurückzahlen mussten. Unter ihnen sind nach wie vor die meisten Betroffenen. Laut AMS habe SITYA falsche Angaben auf seinen Anmeldeformularen gemacht.
Doch nicht nur die Betroffenen klagen darüber, dass ihnen die Kursbedingung von 25 Prozent Präsenzzeit nicht kommuniziert wurde. Auch der Geschäftsführer von SITYA, Martin Ruczizka, beschwert sich darüber. Er bezeichnet das Verhalten des AMS als willkürlich. Die Kriterien für die Genehmigung der Kurse seien nie konsistent vermittelt worden.
Die Anmeldeformulare stammen vom AMS
Er erzählt, dass das Institut die Anmeldeformulare seit diesem Jahr nur mehr nach einer Vorlage des AMS ausstellt. Zuvor stellte das Institut eigene Formulare aus. Auf einem solchen aus dem Jahr 2017 sind Angaben wie: Der wöchentliche Zeitaufwand „inclusive [sic!] Online-Aufgaben am PC, Trainerkommunikation und Lernzeit“ betrage 20 Stunden. Bei einem anderen Formular für einen anderen Kurs ist von „Online-Zeiten, Wochentest und Trainerkommunikation“ die Rede. Das AMS genehmigte die Kurse.
„Die Ausbildung muss laut Gesetz nachgewiesen werden. Mit einer Kursanmeldung, 16 oder 20 Stunden Arbeitszeit und einem Erfolgsnachweis, einem Diplom,“ sagt Ruczizka. Aber: „Der Gesetzestext gibt keine näheren Definitionen vor. Es werden keine Lernmedien und keine Lehrpläne vorgeschrieben. Wir können nach unserem eigenen Lehrplan und mit unseren eigenen Lernmedien unterrichten. Ich kann Unterlagen per Post schicken. Es ist unsere pädagogische Freiheit.“
Im Arbeitslosenversicherungsgesetz heißt es zum Weiterbildungsgeld grundsätzlich tatsächlich nur:
“Bei einer Bildungskarenz … muss die Teilnahme an einer … entsprechenden Weiterbildungsmaßnahme nachgewiesen werden. Das Ausmaß … muss mindestens 20 Wochenstunden, bei Personen mit Betreuungsverpflichtungen für Kinder bis zum vollendeten siebenten Lebensjahr, für die keine längere Betreuungsmöglichkeit besteht, mindestens 16 Wochenstunden betragen.
Dass die Kurse, einen “seminaristischen Anteil” von 25 Prozent beinhalten müssen, geht auf einen Erlass des Arbeitsministeriums aus dem Jahr 2013 zurück. Das ist eine interne Verwaltungsvorschrift an die Behörden. Der hier bedeutende Erlass hat sich eigentlich nicht geändert. Woher stammen die Probleme nach 11 Jahren plötzlich?
Mit seiner Kritik, dass die Vorgaben nicht klar seien, ist Ruczizka jedenfalls nicht allein. Auch ein Institut, dessen Kurse nicht von den Problemen betroffen sind, kritisiert die AMS-Auflagen und -Kommunikation. Das Institut Vonwald.
Was ist eine seminaristische Tätigkeit?
Die Auflagen für Seminar-artige Kurse seien nicht neu, sagt die Inhaberin des Instituts, Gabriela Vonwald: „Das Problem ist, dass nirgends im Gesetzestext tatsächlich klar geschrieben steht, was unter seminaristischer Tätigkeit zu verstehen ist.“ Es läuft auf die fehlende gesetzliche Definition hinaus.
Student:innen und Akademiker:innen verbinden das Wort “Seminar” wahrscheinlich aus Gewohnheit mit Anwesenheit. Unmissverständlich klar ist das aber deshalb noch lange nicht. Die Duden-Definition lautet etwa: „Lehrveranstaltung [an einer Hochschule], bei der die Teilnehmer[innen] unter [wissenschaftlicher] Anleitung bestimmte Themen erarbeiten.“ Eine Anwesenheitspflicht kommt in der Alltagsdefinition also nicht vor. Eine wissenschaftliche Anleitung könnte demnach ja etwa auch durch schriftliche Kommunikation und Unterlagen erfolgen. Wie hat das AMS also die Kursbedingungen kommuniziert?
Anmeldeformulare mit verfuchsten Details
Gabriela Vonwald zufolge wurde das nie weiter ausgeführt. Alle paar Monate wäre die Formvorlage der Anmeldeformulare überarbeitet worden. Auf diesen musste mit der Angabe der wöchentlich aufgewandten Zeit bestätigt werden, dass davon 25 Prozent (Online-)Kurszeiten waren. Auf der Website des AMS habe nur gestanden, 25 Prozent müssten im seminaristischen Setting erfolgen. Mehr Erklärung habe es nicht gegeben.
Besonders schlimm findet Vonwald: „Dass jetzt den Müttern gesagt wird, sie hätten Sozialbetrug begangen. Erstens setzt Betrug Vorsatz voraus. Zweitens haben die Mütter ja gelernt, ihre Arbeiten und Hausaufgaben gemacht.“ Ruczizka stellt die Frage in den Raum: „Was ist überhaupt Sinn und Zweck der Bildungskarenz?“ Seine Antwort: „Wir gehen von Arbeitsmarktintegration, Wiedereinstieg oder Weiterbildung aus. Und zu guter Letzt die positive Lernerfahrung. Sagen wir, der Schüler, das Kursinstitut und der Arbeitgeber bestätigen die positive Lernerfahrung. Dann hat das AMS nicht die Befugnis, nicht den Erlass, ja nicht die Kompetenz, die positive Lernerfahrung irgendwie in Frage zu stellen.“
Das AMS hält den Kurs
Auf die Frage, wie genau das AMS die Kursbedingungen kommuniziert hat, weicht Marius Wilk aus. Der Leiter des Büros des Vorstandes sagt: Die Institute hätten zu verstehen gegeben, dass ihre Kurse den Anforderungen entsprechen. Und die Kursteilnehmer:innen wären selbst verpflichtet gewesen, es zu melden, wäre dem nicht so. Ob aber je eindeutigere Begriffe als „seminaristisches Setting“ oder „(Online-)Kurszeiten“ verwendet wurden, bleibt unklar. Das AMS habe nun verspätet etwaige Textstellen auf der Website, den Anmeldeformularen etc. um genauere Definitionen erweitert.
In den neuen Anmeldeformularen steht nun, der Schulungsplan sei dem Antrag beizulegen und müsse darüber Aufschluss geben “wie viel Zeitaufwand pro Woche auf einen seminaristischen Teil entfällt (Onlineveranstaltungen, die eine Online-Präsenz voraussetzen und einen Dialog mit Trainer_innen ermöglichen)”. Wer die monatelangen Diskussionen verfolgt hat oder eine Hochschule gewohnt ist, kann nun zwar erahnen, was gemeint ist. Wer aber nur den Text liest, kann aber auch immer noch zur verständlichen Auslegung gelangen, dass man sich für diesen Teil einen aufgezeichneten Video-Vortrag im Internet ansehen muss und den Trainer:innen für Fragen eine E-Mail oder SMS schicken kann.
Auch auf der Webseite des AMS zur Bildungskarenz steht trotz seit Monaten offensichtlichem Klärungsbedarf noch keine besonders eindeutige Information. An einer Stelle heißt es etwa:
“Die 20 (bzw. 16) Wochenstunden sollen bei einer Weiterbildung durch Anwesenheitspflicht bzw. bei Online-Weiterbildungen durch Teilnahme an einen seminaristischen Anteil (zB. Online-Vorträge etc.) erfüllt werden. “
Wer sich dabei aber auch nur ein bisschen fragt, ab wann etwas als “Online-Vortrag” gilt, kann Missverständnisse kommen sehen.
An einer anderen Stelle steht:
“Der seminaristische Anteil bei Online-Kursen bzw. die persönliche Anwesenheit bei Weiterbildung muss zumindest ein Viertel (25%) vom gesamten Wochenstundenausmaß ausmachen!” (Hervorhebung und Rufzeichen durch das AMS).
Das hier und an anderen Stellen benutzte Wort “beziehungsweise” lässt es nach wie vor offen, ob die Anwesenheit nun verpflichtend ist oder eine von zwei Optionen neben dem ungeklärten “seminaristischen Anteil”.
Wer über eine Bildungskarenz nachdenkt und die medialen Berichte vielleicht nicht kennt, könnte also möglicherweise Weiterhin die Anforderungen falsch verstehen (oder gar nicht mitbekommen). AMS und Institute warten laut LT1 unter anderem auch auf eine Klarstellung durch den Gesetzgeber. Das ist das Arbeits- und Wirtschaftsministerium unter Martin Kocher (ÖVP).
Kocher will mehr Präsenzzeiten
Anzunehmen ist jedenfalls, dass das Ministerium sich der Interpretation des AMS anschließt. Von Kocher ist bekannt, dass er den Zugang zur Bildungskarenz erschweren und verpflichtende Präsenzzeiten erhöhen will. Die Grünen wollen da in der Regierung aber nicht mit, das zeigten sie bei Kochers jüngstem Vorstoß Anfang dieses Jahres. Möglicherweise stammen daher die plötzlichen Probleme mit einem elf Jahre alten Erlass und bei Instituten, die seit Jahren ohne Probleme Kurse anbieten.
Die Frage bleibt offen, warum die Betroffenen es ausbaden sollen, wenn Anforderungen einer Behörde schlecht kommuniziert werden. Besonders, wenn es möglicherweise Änderungen bei der Auslegung dieser Anforderungen gibt.
Das AMS prüft einstweilen laufend weiter Kurse und sendet Rückzahlungsforderungen. Rückzahlungsforderungen von 10.000 oder 20.000 Euro oder mehr. An junge Mütter und andere Menschen, deren Verbrechen es war, sich für die Arbeit weiterzubilden, und dabei bürokratische Begriffe wie „seminaristisches Setting“ oder „(Online-)Kurszeiten“ nicht intuitiv genau so zu verstehen, wie sie gemeint waren – anscheinend gemeint zumindest.
* Anmerkung der Redaktion: Die Namen der Kursteilnehmer:innen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre im Text geändert. Diesen Hinweis anzufügen hatten wir zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels vergessen. Nach einer Nachfrage eines betroffenen Instituts, dass die entsprechende Person in seinen Daten nicht fand und nichts von so einem Fall wusste, wurde er nachgereicht. Der Fall von „Elsa Schmitt“ wurde außerdem nach dieser Nachfrage um aktuelle Informationen zu seinem weiteren Verlauf nach Veröffentlichung des Artikels ergänzt.