Psychosoziale Versorgung: Was Österreich von anderen Ländern lernen kann
Schweden: Der persönliche Mental-Health-Buddy
Menschen mit Depressionen sind oft antriebslos. Für sie kann es sehr anstrengend werden, sich professionelle Hilfe zu suchen. In Österreich sind Betroffene bei der Suche nach einer Psychotherapeutin oder einem niedergelassenen Psychiater schon am Telefon auf sich allein gestellt. Einzig in Ober– und Niederösterreich gibt es zumindest telefonische Clearing-Stellen, die eine direkte Vermittlungsfunktion übernehmen.
In Schweden können Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in solchen Fällen auf sogenannte „Persönliche Ombudsleute“ (PO) zurückgreifen. Das sind Personen aus der Gemeinde, die als „professionelle Freund:innen“ agieren. Viele von ihnen sind ausgebildete Sozialarbeiter:innen, Anwält:innen oder arbeiteten im psychosozialen Bereich. Das Angebot tragen die Krankenkassen.
Diese Leute assistieren psychisch kranken Menschen im Alltag, indem sie Kontakte zu psychiatrischen oder psychotherapeutischem Personal aufbauen, bei rechtlichen Situationen aushelfen oder bei familiären Konflikten schlichten. Sie treffen keine Entscheidungen in der Funktion einer Behörde, sie arbeiten unabhängig und nur im Interesse der Betroffenen.
Das Projekt läuft in Schweden seit 21 Jahren und hat sich bewährt: Eine Studie belegt, dass Menschen mit PO-Unterstützung seltener stationäre Aufenthalte benötigen und sich ihre psychosoziale Situation durch die helfende Hand maßgeblich verbessert. Die schwedische Regierung investiert jährlich rund 15,5 Millionen Dollar in den Service, spart aber pro Klient:in 83.000 US-Dollar in Jahr ein. Die Ersparnisse übertreffen die Ausgaben um das 17-fache.
Triest, Italien: Freiheit ist therapeutisch
In Triest kam es in den 1970er- Jahren zu einer echten Revolution in der psychiatrischen Versorgung: Der einflussreiche Psychiater Franco Basaglia hielt geschlossene Psychiatrien für menschenunwürdig und setzte sich politisch für eine demokratischere Form der Psychiatrie ein – mit Erfolg. 1978 wurden alle geschlossenen psychiatrischen Einrichtungen in der Stadt abgeschafft und 1200 Betten quasi über Nacht entsorgt.
“Es ist unmöglich, Menschen an einem Ort der Unterdrückung und Verborgenheit zu therapieren. Wir müssen mit den Personen auf Augenhöhe arbeiten”, sagte Basaglia einst. Die Stadt hielt seine Worte in Ehren und verfolgt seither ein offenes und gemeinschaftliches Psychiatrie-Modell. In der Stadt gibt es vier “Community Mental Health Centres”, in denen Betroffene 24 Stunden und sieben Tage die Woche ein und aus gehen können. Es gibt keine abgeschlossenen Türen und Einschränkungen, das Personal trägt keine Uniformen und die Patient:innen dürfen jederzeit Besuch empfangen.
Die Zentren fokussieren sich auf eine schnelle Eingliederung der Patient:innen zurück ins soziale Leben. Die Tageseinrichtungen führen die Erstuntersuchungen durch, bieten Psychotherapie an, geben Medikamente aus und servieren ein tägliches Mittagessen, zu dem auch Familie und Freund:innen eingeladen sind. Zusätzlich schaffen sie Möglichkeiten für Freizeitgestaltung und Arbeit. Das Personal erledigt auch Hausbesuche, um das soziale Umfeld der Therapierten näher kennenzulernen.
In den Zentren gibt es keine Wartezeiten und die durchschnittliche Aufenthaltszeit beträgt gerade einmal 14 Tage. In Triest wurde die Zahl der Zwangseinweisungen seit den 1970er- Jahren deutlich gesenkt. Waren es damals noch 150 Zwangseinweisungen pro 100.000 Menschen im Jahr, kam es 2018 nur noch zu 8 pro 100.000. Zum Vergleich: In Österreich kam es 2018 zu 17.800 Zwangseinweisungen. Das sind 200 pro 100.000 Bürger:innen.
Ein offeneres Psychiatrie-Modell und niederschwellige Behandlungsmethoden könnte auch Österreich dabei helfen, höhere Behandlungserfolge zu erzielen und Kosten sowie Wartezeiten zu reduzieren. Seit 1984 konnte die Aufenthaltszeit in den psychiatrischen Einrichtungen in Triest um 70% reduziert werden. Gleichzeitig verursachen die Zentren Kosten, die gerade mal 37% der vorherigen psychiatrischen Einrichtungen ausmachen.
Besonders in der Kinder- und Jugendpsychiatrie führt der Versorgungsengpass oft dazu, dass Jugendliche auf der Erwachsenenpsychiatrie ausweichen müssen. Das Triester Walk-In-Modell könnte das verhindern.
Niederlande: Spezialist:innen in der Erstversorgung
Das niederländische System bietet psychotherapeutische Behandlung auf drei Stufen an: Auf der ersten werden geringfügige psychosomatische Erkrankungen behandelt. Zuständig sind neben Hausärzt:innen sogenannte Erstversorgungs-Psycholog:innen. Die anderen Stufen bleiben Spezialist:innen vorbehalten.
EV-Psycholog:innen absolvieren nach dem Psychologie-Studium eine zweijährige Ausbildung. Sie dürfen jegliche psychische Störungen behandeln und diagnostizieren – allerdings nur die leichten Fälle. Damit bleibt den Psychotherapeut:innen und Psychiater:innen Zeit, um sich auf schwere Fälle zu konzentrieren. Auch die Hausärzt:innen werden durch das Angebot entlastet.
EV-Psycholog:innen kümmern sich zum Beispiel um Nikotinsucht, komplexe Trauer, Schlafstörungen oder Ängste. Ihr Angebot bleibt für bis zu acht Sitzungen kostenfrei. Die erste Sitzung finden nach Überweisung durch den Hausarzt in der Regel schon nach ein paar Tagen statt.
Durch die schnelle Erstversorgung müssen Betroffene in den Niederlanden nicht allzu lange auf einen Therapieplatz warten. Die maximale Wartezeit beträgt laut OECD-Bericht 14 Wochen. Die EV’s decken nämlich jene Kurzzeittherapien ab, die sonst einen Platz in der Warteschlange belegen würden.
In Österreich wird nur bei den wenigen Therapieplätzen auf Krankenschein zwischen schweren und leichten Erkrankungen unterschieden. Bei teilrefundierter und selbst bezahlter Psychotherapie entscheidet nach wie vor der Inhalt der Geldbörse, wer einen Platz bekommt. Alle anderen haben mit hohen Wartezeiten zu rechnen: Laut OECD sind es bis zu acht Monate, einzelne Medienfälle berichten von mehreren Jahren. Zeit genug, dass aus einem geringfügigen Problem ein schwerwiegendes wird.
Argentinien: Das Psychoanalyse-Eldorado
In Argentinien gehört psychologische Beratung zum guten Ton. Das Land hat die höchste Anzahl an Psychotherapeut:innen oder Psycholog:innen pro Kopf: Laut einer Studie sind es 202 pro 100.000 Menschen. Zum Vergleich: In Österreich, das in Europa sogar weit vorne liegt, sind es 80.
“In Argentinien wurde eine sehr wichtige Schlacht gewonnen, die emotionaler Gesundheit mehr Raum gibt”, sagt der prominente Psychoanalytiker Gabriel Rolon in einem CNN-Interview. “Es ist genauso normal hier, wegen emotionalen Leid zum Arzt zu gehen, wie bei Schmerzen im Knie”. Er sieht die Ursache für den Boom in der argentinischen Kulturgeschichte: “Die Menschen, die Argentinien schufen, flüchteten oft vor Krieg, Hunger, ideologischer oder religiöser Verfolgung”. Dadurch seien sie gute Zuhörer:innen für den Seelenschmerz anderer geworden, sagt Rolon, denn „sie brauchten jemanden, der sich umgekehrt für ihre Schmerzen interessierte.“
Besonders beliebt in Argentinien ist die Psychoanalyse nach der Lehre Jacques Lacans oder Sigmund Freuds. In Buenos Aires gibt es sogar einen Stadtteil, der „Villa Freud“ genannt wird, weil sich dort besonders viele Psycholog:innen angesiedelt haben. Der Historiker Marian Plotkin erklärt in einem Interview, dass Psychoanalyse vor allem nach dem Sturz des Diktators Juan Peron beliebt wurde: „Sie wurde zu einem Akt der Emanzipation.“
Österreich kann Argentinien natürlich nicht die Kulturgeschichte nachahmen. Dennoch könnten Programme zur Entstigmatisierung – zum Beispiel an Schulen – dabei helfen, dass das Thema psychische Gesundheit auch am Esstisch oder am Arbeitsplatz besprochen wird. Laut einer Studie reden nur 21 % der Österreicher:innen mit Arbeitskolleg:innen über eine psychische Erkrankung. Auch in der Preisgestaltung gehen die Argentinier:innen mit gutem Vorbild voran: So gibt es zahlreiche Angebote für umgerechnet weniger als 10 Euro. Wer in Österreich keinen Kassenplatz bekommt, zahlt zwischen 70 und 130 Euro.