Sozialmärkte gegen Armut: Hier kauft man heimlich
Sozialmärkte sollen armutsgefährdete Menschen unterstützen und Lebensmittelverschwendung bekämpfen. Ein Mittel im Kampf gegen Armut sind sie aber nicht.
“Meine Kinder dürfen auf keinen Fall wissen, dass ich hier war”, sagt Alina*. Zwischen einer Palette mit Gemüsesuppen und einer anderen mit Mineralwasser geht die zierliche Frau etwas unter. Sie ist heute zum zweiten Mal in einem Sozialmarkt, erst vor kurzem hat sie von solchen Einrichtungen auf Facebook erfahren. Alinas Tochter ist 12, ihr Sohn 17 Jahre alt. Sie hat Angst, dass die beiden die hier gekauften Lebensmittel nicht essen, wenn sie erfahren, woher sie kommen. Sie könnten ja denken, dass sie verdorben sind, wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum teilweise überschritten ist. Deswegen achtet sie darauf, dass das Datum bei vielen Produkten versteckt ist. Außerdem will sie nicht, dass sie sich für ihre Mutter schämen.
Alina selbst schämt sich nicht, in einen Sozialmarkt zu gehen. Dieses Monat hat sie nur 270 Euro vom AMS und 400 Euro Krankengeld bekommen. Sie hatte nicht gewusst, dass sie sich wieder beim AMS melden muss, sobald sie gesund ist. Ihr Mann arbeitet Vollzeit, verdient aber auch nicht viel. In dieser Situation hilft so ein Markt. “Sogar für meine Nachbarin, die mir manchmal aushilft, habe ich etwas mitnehmen können”, sagt Alina und deutet auf den abgepackten Kuchen im Einkaufskorb.
Das Konzept Sozialmarkt
Seit mehr als 20 Jahren gibt es Sozialmärkte in Österreich, der erste wurde 1999 in Linz eröffnet. Die grundsätzliche Idee dahinter ist simpel: Menschen mit niedrigem Einkommen können Waren kaufen, die am regulären Markt keine AbnehmerInnen gefunden haben. Wer in einem Sozialmarkt einkaufen will, benötigt eine Berechtigungskarte. Diese bekommt man, wenn man ein gewisses Einkommen unterschreitet. Die meisten Märkte orientieren sich dabei an der Armutsgefährdungsschwelle von knapp 1300 Euro, bei manchen liegt die Grenze noch niedriger.
In dieser “Mitgliedschaft” liegt einer der zentralen Kritikpunkte an Sozialmärkten, so die Armutsforscherin Michaela Moser: “Die Menschen werden zwangsläufig stigmatisiert. Wir haben hier kein gleiches System für Armutsbetroffene, sondern eine gesellschaftliche Trennung.” Wer in einen Sozialmarkt geht, outet sich damit. Dass sich die BetreiberInnen um einen Abbau der Stigmatisierung bemühen, sieht Moser positiv. Aber das System baue eben auf dieser Unterscheidung auf.
Sebastian Panny
Die Waren, die man in Sozialmärkten erstehen kann, sind gelegentlich abgelaufen, manche Verpackungen sind beschädigt, häufig sind es Spenden der Hersteller. Die Preise für die Waren sind im Regelfall stark reduziert. In den meisten Fällen wären die Produkte weggeschmissen worden. Sozialmärkte sind also ohne Überproduktion kaum möglich, gleichzeitig verringern sie die Lebensmittelverschwendung. Denn der überwiegende Teil der Märkte bietet vor allem Lebensmittel an, es gibt aber Ausnahmen. So existieren beispielsweise auch Märkte für Tiernahrung, in Wien hat erst vor kurzem ein Markt für Kinderspielzeug eröffnet. Mittlerweile gibt es etwa 100 Sozialmärkte in Österreich, nicht ganz die Hälfte von ihnen sind Mitglieder des Dachverbands SOMA Österreich. 2010 gab es nur 70 Sozialmärkte in Österreich – und das Angebot wird in Zukunft wohl weiter steigen.
Die Kundenzahl steigt
“Die letzten Jahre sind beständig mehr Menschen zu uns gekommen. Durch Corona sind das aber doch sprunghaft mehr geworden”, sagt Alexander Schiel, Geschäftsführer von “Sozialmarkt Wien”. Er leitet drei Märkte die von 45.000 bis 50.000 KundInnen besucht werden. Sein kleines Büro ist direkt neben der Kasse des größten Sozialmarktes Österreichs in Wien-Donaustadt, dem 22. Wiener Gemeindebezirk.
Mit einem normalen Supermarkt kann man diesen, genau wie andere Sozialmärkte, schwer vergleichen. Das Warenangebot schwankt stark, auch wenn gewisse Warengruppen immer verfügbar sind. Schilder weisen darauf hin, dass die jeweiligen Produkte auch noch genießbar sind, obwohl sie abgelaufen sind. Manche Preisschilder zeigen an, wie viel die Ware im regulären Handel kosten würde. Im hinteren Bereich der Filiale befindet sich ein kleiner Bereich für Second-Hand-Kleidung. Besonders stolz ist Schiel auf seine große Hygiene-Abteilung, mit der laut ihm andere Sozialmärkte nicht mithalten können.
Schiel ist eine schillernde Figur in einer wenig glamourösen Branche. In seiner Biografie hat sich seine jetzige Tätigkeit nur bedingt abgezeichnet: Zwei Jahre saß er im Aufsichtsrat der Börse, bevor er mit 25 Jahren Jörg Haider im Wahlkampf unterstützte. Dabei lernte er in Kärnten das Konzept der Sozialmärkte kennen. Nach einem halben Jahr kam er wieder zurück nach Wien, 2008 eröffnete er den allerersten Sozialmarkt in der Bundeshauptstadt. Politisch ist Schiel heute nicht mehr aktiv, auch die Sozialmärkte leite er unpolitisch, wie er betont. Finanzielle Unterstützung bekommt er auch von der Familie Glock. Eine einmalige Spende ist zur dauerhaften Unterstützung gereift. Schiel geht offen damit um. Davon zeugt auch eine Plakette im Markt, die darauf hinweist.
Dass die Auswahl in seinen Märkten vergleichsweise groß ist, hat einen einfachen Grund: Im Gegensatz zu anderen kauft Schiel den Großteil seiner Waren extra zu und ist dadurch weniger auf Spenden angewiesen. Mittlerweile kämen Firmen, die an einer Zusammenarbeit interessiert sind, auch auf ihn zu. Er sieht darin auch einen Service für seine KundInnen: “In anderen Märkten erhalten die Menschen oft das, was sonst sowieso in den Mistkübel kommen würde. Auch wenn das natürlich nichts Schlechtes sein muss, ist das nicht unbedingt angenehm für sie.”
„Das widerspricht der grundsätzlichen Idee“
Der Leiter der Wiener Hilfswerk Sozialmärkte, Peter Kohls, sieht das anders. “Durch den Zukauf entsteht eigentlich ein neuer Markt. Das widerspricht der grundsätzlichen Idee der Sozialmärkte einfach”, sagt er bei einem Treffen im Kaffee-Eck des Marktes im siebten Wiener Gemeindebezirk. Die Märkte des Hilfswerks sind Teil des SOMA-Dachverbands, deren Grundsatz lautet: Es werden ausschließlich Spenden weiterverkauft, bis auf Milch werden keine Produkte erworben.
Schon vor der Öffnung des Marktes am Vormittag hat sich vor der verschlossenen Tür eine Schlange von etwa 30 Personen gebildet. Gemeinsamkeiten haben sie, bis auf ihr Einkommen, recht wenig. Es sind Menschen jeden Alters und unterschiedlicher Herkunft, die KundInnen bei Sozialmärkten werden. “Wir führen keine genauen Erhebungen durch. Aber etwa 30% der Menschen, die zu uns kommen, sind Pensionistinnen und Pensionisten, unsere Kernkundschaft ist zwischen 30 und 70 Jahre alt”, sagt Kohls.
Doch Sozialmärkte sind nicht nur Orte des täglichen Konsums, wie es andere Geschäfte sind. “Es geht auch darum, dass man den Kundinnen und Kunden das Gefühl gibt, ein Mensch zu sein”, sagt Bernardo Radosavljevic. Er arbeitet seit der Eröffnung vor zwölf Jahren im Sozialmarkt Neubau. Der Betrieb wird auch durch das AMS finanziert, zwölf Personen machen hier aktuell eine Schulung, um danach in den Einzelhandel weitervermittelt werden zu können. Radosavljevic schaut, dass alle beschäftigt sind, nebenbei kümmert er sich um die KundInnen. Ob sich etwas verändert hat, seitdem er hier ist? Er runzelt die Stirn. “Eigentlich kaum, der Andrang ist etwas größer. Und wir haben jetzt eine Kaffee-Ecke für soziale Kontakte. Die Menschen kommen auch hierher, um sich zu unterhalten. Sie wollen dir von ihren Sorgen erzählen”, sagt er.
Mehr als nur ein Supermarkt
Ähnliches berichtet Sabine N. Sie ist seit mehr als zwei Jahren freiwillige Mitarbeiterin in den Sozialmärkten von Alexander Schiel. “Manche kommen einfach, um mit jemandem zu reden. Speziell bei älteren Leuten kommt das vor”, sagt sie. Doch besonders ältere Personen schämen sich häufiger, in einen Sozialmarkt zu gehen. Die Hürde ist für viele hoch. “Manchmal steht vor dem Markt so ein altes Mutterl und traut sich nicht herein. Ich winke ihr dann oft zu oder gehe raus, um mit ihr zu reden. Oft sind sie dann überrascht, wie nett es im Markt ist”, sagt Sabine.
Zum wiederholten Mal rutscht ihr der Mundschutz mit der aufgedruckten Sternennacht von Van Gogh unter die Nase. Geduldig zieht sie ihn wieder hoch, während sie eine Frau grüßt, die an ihr vorbeigeht. Sabine nickt in ihre Richtung. “Sie hat eine Tochter, die nur Haferjoghurt isst, sechs Stück pro Tag. Das könnte sich die Mutter in einem normalen Supermarkt einfach nicht leisten, außerdem kann sie nicht so viele lagern”, sagt sie. Deswegen haben sie immer einige Packungen im Kühlraum zurückgelegt. Die Frau holt sie regelmäßig ab.
“Natürlich haben Sozialmärkte auch positive Seiten, etwa was die Verwertung von Lebensmitteln betrifft”, sagt Michaela Moser. Die Armutsforscherin betont aber, dass solche Märkte nur Notlösungen sein können. Und es gäbe Alternativen zu dem Konzept: Bis vor kurzem gab es in Kapfenberg etwa einen Supermarkt, der zugleich auch Sozialmarkt war. Armutsbetroffene Menschen erhielten dort mit ihrer Kundenkarte an der Kasse zusätzlichen Rabatt, konnten aber wie andere Leute einkaufen. Auch Konzepte wie Foodsharing hätten viel Potenzial, so Moser. KonsumentInnen könnten sich dabei mit kleinen ProduzentInnen zusammentun und sich so gegenseitig helfen.
Sozialmärkte sind kein Mittel gegen Armut
Dass Sozialmärkte die Lösung für Armut sein können, glaubt Moser nicht: “Es ist akute und individuelle Armutsbekämpfung. Systemisch wirkt es nicht.” Ähnlicher Meinung ist Alexander Schiel. “Sozialmärkte können Armut nicht bekämpfen, dafür sind wir auch nicht da. Aber wir können die Situation von Menschen erträglicher machen”, sagt er.
Alina ist froh über die Möglichkeiten, die sie im Sozialmarkt hat. Denn sie kann hier nicht nur für ihre Nachbarin oder ihre Kinder einkaufen. “Ich esse so gerne Mozartkugeln, aber wissen Sie, was die kosten? Das kann ich mir normalerweise nicht leisten. Aber hier hab ich welche gefunden, die nur einen Euro kosten. Das findet man sonst nirgends”, sagt sie und lächelt.
*Name von der Redaktion geändert