Tausende Kinder bekommen keine Therapie: "Es ist ein Skandal"
Emma (Name geändert) ist ein verträumtes Kind. Das achtjährige Mädchen hat große, braune Augen und brünette, schulterlange Haare. Ihre Mutter Andrea (Name geändert) sagt: „Die Kleine ist oft in sich gekehrt. Sie ist sehr scheu. Vor allem, wenn sie neue Menschen kennenlernt, fasst sie nur schwer Vertrauen. Doch wenn sie einen neuen Freund findet, ist sie so aufgeregt, dass sie am ganzen Körper zittert.“ Dass Emma jedoch nicht einfach ein „normales“, introvertiertes Kind ist, sondern schwere seelische Qualen erleidet, haben sogar ihre Eltern jahrelang nicht bemerkt.
Emma wurde im Kindergarten derartig gemobbt, dass sie psychosomatische Symptome entwickelte und nun an Enkopresis leidet. Das ist eine psychische Erkrankung, bei der das Kind seinen Stuhl so lange zurückhält, bis der Enddarm erschlafft und sich verbreitet, weil sich darin harter Stuhl ansammelt. Durch die Ausdehnung des Enddarms kommt es schließlich zum Sensibilitätsverlust, wodurch Emma nicht mehr merkt, wenn sich der weiche, noch nicht eingedickte Stuhl am harten vorbei schiebt und in der Hose landet. Das Zurückhalten des Stuhls kann im schlimmsten Fall auch lebensgefährlich werden, sodass Emma eine Operation drohen könnte. Was genau passiert ist, ist unklar. Emma will nicht darüber reden. „Wir wissen nur, dass die anderen Kinder ihr teilweise nicht erlaubt haben, auf‘s Klo zu gehen. Sie haben sich ihr in den Weg gestellt. Die Pädagoginnen haben das leider nicht mitbekommen“, erzählt die Mutter. Drei Jahre lang hat es gedauert, bis die Familie endlich eine Diagnose bekam und wusste, was los ist. Passiert ist seither wenig.
Keine freien Kassenplätze
Emma bekam einige Stunden Spieltherapie und ein paar Stunden Ergotherapie – das ist eine Therapieform, bei der vor allem mit aktiver Körperbewegung gearbeitet wird. Als Behandlung gegen die Enkopresis waren sie zwar erfolglos, jedoch wurde dabei immerhin festgestellt, dass Emma auch unter einer Entwicklungsstörung leidet. Ob auch diese durch das Mobbing im Kindergarten bedingt ist, ist heute schwer zu sagen.
Sicher ist nur: Emmas Zustand hat sich verschlechtert. Zwar ist sie in ihrer Volksschule in einer Integrationsklasse, in der auf ihre Bedürfnisse Rücksicht genommen werden kann, doch seit einiger Zeit nässt sie nun auch gelegentlich ein. Emma braucht daher dringend Psychotherapie, um die Ursachen für ihre Symptome aufarbeiten zu können.
Freie Kassenplätze gibt es für Emma aber keine. „Ich bin Reinigungskraft und der Vater der Kinder ist derzeit arbeitslos, wir können uns einfach keine Therapie auf private Kosten leisten“, erzählt Andrea. Im Herbst ist das Kontingent für freie Kassenplätze aufgebraucht. Ein bis zwei Jahre müssen Kinder daher mitunter auf einen Therapieplatz warten.
Dass Therapien nicht von Kasse bezahlt werden, ist einfach ein Skandal
Zigtausende Kinder betroffen
Emma ist nicht das einzige Kind, das dringend eine Therapie benötigt und einfach keine bekommt. 23,93 Prozent aller 10 bis 18-Jährigen in Österreich leiden an einer psychischen Erkrankung. Das ergab 2017 die erste österreichweite Untersuchung. Die Plattform “Politische Kindermedizin” hat berechnet, dass derzeit mindestens 88.000 psychisch kranke Kinder und Jugendliche betroffen sind. Der Psychotherapeut Karl-Ernst Heidegger versucht gerade für den österreichischen Bundesverband für Psychotherapie den Zustand der Versorgung zu erfassen. Er schätzt, dass “nur jedes fünfte Kind, das Psychotherapie braucht, diese auch erhält. Und selbst wenn es jedes Dritte wäre, wäre das immer noch erschreckend traurig“.
Doch auch wenn der begehrte Kassenplatz endlich ergattert wurde, kommen oft weitere Kosten auf die Eltern zu. Pro Stunde kann da schon einmal ein Selbstbehalt von bis zu 50 Prozent anfallen. Das sind im Schnitt bis zu 40 Euro, die man aus eigener Tasche bezahlen muss. Bei einer Einheit pro Woche wären das im Monat insgesamt an die 160 Euro. Oft sind außerdem mehrere Therapien gleichzeitig nötig. Das belastet das ohnehin knappe Budget von Familien mit niedrigem Einkommen erheblich, aber auch durchschnittlich Verdienende kommen dann schnell an ihre Grenzen.
Betreuung nicht gut genug
Leonhard Thun-Hohenstein ist Präsident der österreichischen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie. Am meisten regt ihn bei allen Missständen auf, dass die Kassenplätze schlechtere Qualität als private Therapien liefern: „Wenn Kinder eine Psychotherapie erhalten, müssen die Eltern miteinbezogen werden. Auch für sie muss Zeit aufgewendet werden. Bei Kassenplätzen ist das jedoch nicht der Fall. Das wurde einfach eingespart.“ Der Kinderpsychiater setzt sich seit Jahren dafür ein, dass alle Therapien vollständig von den Krankenkassen bezahlt werden: „Dass das nicht so ist, ist einfach ein Skandal!“
Psychisch kranke Kinder müssen schnell und bestmöglich behandelt werden. Christian Kienbacher arbeitet als Kinder- und Jugendpsychiater im Ambulatorium des SOS-Kinderdorfs in Wien. Er erzählt: „Ein Mädchen litt im Sommer an Panik- und Angstzuständen. Sie hat kaum noch ihr Zimmer verlassen. Als dann die Schule im Herbst wieder losging, konnte sie natürlich nicht hingehen. Wir haben ihr sofort eine Psychotherapie ermöglicht und schon nach wenigen Sitzungen ging sie wieder in die Schule. Es geht ihr zunehmend besser.“ Hätte dieser Zustand jedoch wochenlang angehalten, hätte sie den Anschluss an die Klasse verloren und das wohl schwer wieder aufholen können. „Solchen Patienten droht dann mitunter die Wiederholung eines Schuljahres, manchmal ist die gesamte Bildungslaufbahn gefährdet.“
Nicht zu helfen ist teuer
Dieses Beispiel zeigt auch, dass die schlechte Versorgung im Kindesalter dem Staat sehr teuer kommt. Ein Euro, der in die sofortige therapeutische und psychiatrische Versorgung fließt, bringt später einen achtfachen Mehrwert. Denn junge Menschen, die ihre Schule bzw. Ausbildung abschließen, finden Jobs, zahlen Steuern und erhalten sich in der Regel selbst. Unbehandelte Kinder mit leichten psychischen Problemen können hingegen zu einem späteren Zeitpunkt tiefgreifende Störungen entwickeln. Nicht selten führt das zur Arbeitsunfähigkeit im Erwachsenenalter. Vom unnötigen seelischen Leid dieser Menschen abgesehen, sind sie dann mitunter für den Rest ihres Lebens vom Sozialstaat abhängig.
In der Psychiatrie wird dann gerne von „irregeleiteten Patientenkarrieren“ gesprochen.
Oft braucht es aber nicht viel, um Kinder und Jugendliche wieder auf die Spur zu bringen, erklärt Psychotherapeut Heidegger. Es gäbe zwei Gruppen. In der einen könne dem Kind und der Familie in einer überschaubaren Zeit relativ rasch geholfen werden – oft waren dafür nur zehn Sitzungen nötig. In der anderen Gruppe bräuchte es aber, je nach Diagnose und Schwere der Beeinträchtigung, langfristig Hilfe.
Armut ist Risikofaktor Nummer eins
Unklare Zuständigkeiten lähmen
Seit einigen Jahren wird versucht, den Zugang zu Therapien für Betroffene zu verbessern. Doch der Bedarf klafft immer noch weit mit der Realität auseinander. Dabei gibt es auch große regionale Unterschiede bei der Versorgung mit Therapieplätzen. Im Burgenland gibt es zum Beispiel keinen einzigen Kinder- und Jugendpsychiater mit Kassenvertrag.
Der Politik ist dieser Mangel bewusst. Doch der Schlagabtausch zwischen den Landesregierungen und dem Bund, über die Verantwortung und Finanzierung, führt am Ende des Tages zum derzeit vorherrschenden Stillstand. Abertausende Kinder, Jugendliche und ihre Eltern bleiben dabei auf der Strecke.
Eine Frage des Geldes
Gerade Menschen mit schwachen finanziellen Ressourcen trifft das am Härtesten. Psychotherapeut Heidegger erläutert: „Psychische Krankheiten haben neben inneren Faktoren auch äußere. Bei jeder äußeren Belastung steigt das Gefahr Symptome zu entwickeln. Armut ist der Risikofaktor Nummer eins.“ Somit können sich ausgerechnet jene, die am häufigsten von psychischen Erkrankungen betroffen sind, keine teuren Therapien leisten.
Wie auch Emmas Beispiel zeigt, erleben wir in Österreich daher immer öfter eine Zwei-Klassen-Medizin. Trotz Vollzeitbeschäftigung kann die Mutter ihrer Tochter nicht die dringend notwendige medizinische Versorgung bieten. Andrea leidet unter dem Gefühl versagt zu haben und nicht genug für ihre Kinder zu tun. Viele Eltern empfinden ähnlich wie sie. Dabei ist es das Gesundheitssystem, das hier kläglich scheitert.
„Ich liebe meine Tochter und tue alles für sie. Aber ich habe nicht so viel Geld und manchmal bin ich auch selbst am Ende meiner Kräfte“, sagt Andrea. Dann seufzt sie und drückt ihre Zigarette aus. Sie muss in die Arbeit, wo sie bis spät nachts ein Wohnhaus putzen wird.