"Türkises PR-Spektakel": Fragwürdiger Einsatz der Miliz in Österreich
„Beim Einrücken wurden wir mit zwei Stück Mund-Nasen-Schutzmasken versorgt. Doch die waren mehr zum Schein“, erzählt Milizsoldat A.Z. im Gespräch. „Wir hatten in der ersten Woche öfter von 7:30 bis 22:00 Uhr Ausbildung, bei der wir zumindest teilweise die Masken tragen mussten. Es gab aber keine Möglichkeit, die Masken zu waschen und wir hatten auch keine Anweisungen dazu.“
Corona auf Vertrauensbasis
A.Z. heißt nicht wirklich so. Doch namentlich genannt werden möchte der Milizsoldat der Jägerkompanie Tulln nicht – er fürchtet sonst Probleme. Tatsächlich zeigen seine Beobachtungen ein Bild des Chaos. So seien etwa alle Einrücker mittels Nasenabstrich auf Corona getestet worden, es wäre auch Fieber gemessen worden. Doch: „Bei den Berufssoldaten, die in unserer Kompanie dabei waren, wurde offenbar nicht getestet.“ Denen sei gesagt worden, dass es bei Ihnen „auf Vertrauensbasis“ funktioniere.
Verwundert war er auch, dass bereits am ersten Abend alle Milizsoldaten wieder nach Hause fahren konnten, obwohl zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch keine Testergebnisse vorlagen. Genau könne er das aber nicht sagen, „da uns diese Testergebnisse nie mitgeteilt wurden“.
Überbelegte Unterkünfte und kaum Abstand
Zu Beginn hätte es beim Essen zwar noch adäquate Sicherheitsregeln gegeben, etwa Abstände, Hände desinfizieren und Masken. Doch bereits bei der Unterkunft hätten die Probleme begonnen: „Die Unterkünfte waren überbelegt. Wir hatten bis zu 66 Prozent statt der vorgegebenen 50 Prozent Belegung pro Zimmer“, so A.Z. Im Einsatz hätte es dann so gewirkt, „als wäre Corona gar kein Thema mehr“.
„Abstände, etwa beim Essen, wären auch räumlich gar nicht möglich gewesen. Dazu Besteck, das man sich selbst aus offenen Kübeln genommen hat“, sagt A.Z. Ein zusätzliches Problem: „In der Mannschaft gab es einige, die der Meinung sind, das Virus wäre eh nicht so gefährlich oder das sei nur eine große Verschwörung.“ Das Bild des Chaos, das der Milizsoldat zeichnet, bestätigt sich bei Recherchen in den sozialen Medien.
„Reines Glück, dass nichts passiert ist“
Auf der Plattform Reddit etwa haben sich in den letzten Wochen User über ihre Erfahrungen im Milizeinsatz ausgetauscht. „Bin gestern zur Einsatzvorbereitung für den sicherheitspolizeilichen Assistenzeinsatz eingerückt“, schreibt etwa ein User.
Seine Erfahrung gleicht dann jener des Milizsoldaten der Jägerkompanie Tulln: „Gleich zu Beginn gab es Coronatests bei allen und zwei Stück MNS. (… ) Auf Abstandsregeln wird teilweise komplett geschissen.“ Ein anderer User aus Tirol schreibt, er könne das „nur bestätigen“. Das bittere Fazit von Milizsoldat A.Z.: „Meiner Meinung nach ist es reines Glück, dass nichts passiert ist. Denn bei einem Infizierten wäre gleich mal der ganze Zug ausgefallen.“
Chaotische Vorbereitung
Auch die Einsatzvorbereitung wird von vielen Milizsoldaten umfassend kritisiert. A.Z. etwa sagt, dass „fast die gesamte Einsatzvorbereitung“ umsonst gewesen sei, „weil sie nichts mit dem tatsächlichen Einsatz zu tun hatte.“ Den Eindruck von Chaos teilt im Gespräch auch B.C., ein Milizsoldat aus Salzburg. Namentlich will auch er nicht genannt werden. B.C. sagt: „Sowohl während der Vorbereitung als auch während des Einsatzes wurden komplett unnötige Ausbildungsmaßnahmen verlangt.“
Mit dem Einsatz hätten diese Ausbildungen „rein gar nichts“ zu tun gehabt, so B.C. Auch die Kommunikation hätte überhaupt nicht funktioniert, kritisieren die Milizsoldaten. „Über den genauen Einsatzraum, Befugnisse und weitere Gegebenheiten sind wir erst unmittelbar davor informiert worden. Generell gab es praktisch keine Informationen vom Kompaniekommando, weswegen viele Leute jetzt einen ziemlichen Grant auf unsere Führung haben“, sagt A.Z.
Das Einsatzende wird auf Facebook verkündet
Er und seine Kollegen hätten nicht gewusst, „wann genau unser letzter Tag als Soldat sein wird, ergo kann keiner seinen Arbeitgebern etwas Konkretes sagen“, schreibt ein Milizsoldat auf Reddit. Sein Befund: „Informationsfluss von oben nach unten ist praktisch inexistent und die Lage ändert sich fast stündlich.“ Andere pflichten bei: „Wie immer (…) warten auf Befehle und wenig Infos“, schreibt einer, „wie immer null Kommunikation mit dem niederen Volk“ ein anderer.
Auch die Informationen über das jeweilige Ende des Einsatzes dürften extrem dubios verlaufen sein. A.Z. erzählt: „Wir haben von unserem Einsatzende aus den Medien erfahren.“ Ein anderer Milizsoldat schreibt, wie er vom Einsatzende informiert worden wäre: Durch ein Facebook-Posting von Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP). Es sei „ein unglaubliches Chaos.“
Schließlich sorgt auch ungleiche Bezahlung für Unmut: „Die Mehrheit von uns war als Einsatzpräsenzdiener einberufen und hat damit ca. 1.700 Euro monatlich bekommen – es gab aber auch einige, die auf freiwilliger Basis dabei waren und rund 3.000 Euro im Monat kriegen“, so A.Z.
Vor allem an der Grenze eingesetzt
Ursprünglich wurden 1400 Milizsoldaten eingezogen, davon sind laut Bundesheer aktuell noch etwa 868 im Einsatz. Der Großteil dieser Miliz-Soldaten wurde und wird an den österreichischen Grenzen eingesetzt. Die medial breit gestreuten Einsätze, etwa bei der Post, fielen gegenüber dem Einsatz an den Grenzen damit offenbar kaum ins Gewicht.
Etwa 623 Milizsoldaten seien aktuell in Tirol, im Burgenland, in der Steiermark und in Kärnten im Grenzeinsatz, sagt Anna-Maria Roth, Sprecherin des Verteidigungsministeriums auf meine Anfrage. Auch A.Z. war an der Grenze. Der Eindruck, den er und viele andere haben, lässt diesen Einsatz äußerst zweifelhaft erscheinen.
Stehen, plaudern, diskriminierende Polizei
Bei einer geöffneten Grenzkontrollstelle an der Grenze zu Tschechien hätte er gemeinsam mit der Polizei bei einreisenden Menschen Fieber gemessen und Dokumente kontrolliert. „Bei den anderen geschlossenen Grenzkontrollstellen bzw. an der grünen Grenze waren es meistens zwölf Stunden, in denen man herumgestanden und -gesessen ist, ohne dass viel passiert ist.“ Auch hier verstärken weitere Berichte das Bild.
Ein Milizsoldat etwa berichtet von seinem Einsatz: „Zwölf Stunden lang am Grenzposten (meist ein Grenzübergang) stehen, ab und zu mit Einheimischen plaudern, die vorbeikommen.“ Von einer sehr bedrückenden Erfahrung berichtet B.C. aus Salzburg: „Am meisten war ich von der Polizei enttäuscht: noch sexistischer und rassistischer als ohnehin schon befürchtet und obendrein höchst unprofessionell.“
Wozu der Einsatz?
Unklar bleibt, warum der Einberufung der Milizsoldaten für den Grenzeinsatz überhaupt angeordnet wurde. Nachdem in Corona-Zeiten durch die weitreichenden Einreiseverbote kaum Menschen über die Grenze gekommen sind, musste die Polizei an den Grenzen tatsächlich sogar enorme zusätzliche Ressourcen haben.
Eine diesbezügliche Frage wird vom Verteidigungsministerium nicht beantwortet. Ein Satz aus der Antwort des Ministeriums lässt allerdings tief in die Gedankenwelt der Bundesheer-Strategen blicken.
Corona-Einsatz: Geflüchtete Menschen jagen
„Durch die weitgehende Öffnung der Grenzen der EU-Staaten“ würde „der Migrationsdruck wieder stärker“, so Sprecherin Roth. Daher würden auch „sieben Jägerkompanien im Migrationseinsatz“ bleiben. Das klingt, als würde hier ein längerer Einsatz zur Abwehr geflüchteter Menschen vorbereitet. Das klingt, als wäre Corona als Übung benutzt worden.
Bereits im März hatte auch Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) gegenüber dem Kurier erklärt, dass die Abwehr von Flüchtenden hochgefahren werden könne. Konkret nannte er den Brenner in Tirol, Spielfeld in der Steiermark sowie den Karawankentunnel in Kärnten. Dazu passt, dass das Bundesheer bereits seit einigen Jahren an einem Ausbau der Miliz arbeitet. Dieses solle „massiv an Bedeutung“ gewinnen und „militärische Heimat“ werden, heißt es bereits 2017 in der vom Verteidigungsministerium herausgegebenen Zeitschrift Miliz info
Das Bundesheer als innenpolitische Ordnungstruppe
Ebenfalls zum Einsatz kam die Miliz vor Botschaften und „systemkritischer Infrastruktur“, wie Sprecherin Roth sagt. Lange galt in Österreich die Regel, dass das Bundesheer nicht im Inneren eingesetzt wird. Das ist nicht zuletzt eine Lehre aus dem BürgerInnenkrieg im Februar 1934.
Damals wurde das Bundesheer gegen revolutionäre ArbeiterInnen eingesetzt und schoss mit Kanonen auf Gemeindebauten. Doch 2015 hat die damalige SPÖ-ÖVP-Regierung dieses Prinzip gebrochen und beschlossen, dass das Bundesheer künftig verstärkt im Inneren eingesetzt werden dürfe.
Seitdem stehen SoldatInnen beispielsweise vor Botschaften in Wien und könnten dort auch gegen Demonstrationen eingesetzt werden. Parallel übt das Bundesheer im Rahmen des Schutzes der „systemkritischen Infrastruktur“ seit mehreren Jahren verstärkt Einsätze gegen Demonstrationen und Streiks. Auch hier könnte der aktuelle Einsatz der Miliz ein Testlauf sein.
Aufrüstung
Der Einsatz der Miliz wird auch für entsprechende Bundesheer-Propaganda und für neue Geldwünsche benutzt. So trat etwa Verteidigungsministerin Klaudia Tanner am 9. Juni bei einem „Tag der Miliz“ in Wien auf. Erfunden wurde dieser Tag unter dem ehemaligen Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil von der SPÖ.
Tanner zur Seite stand beim Auftritt in Wien der Milizbeauftragte Generalmajor Erwin Hameseder. Seine Forderung: Noch mehr Geld für das Bundesheer. Er verlangte gar „budgetär einen spürbaren Schritt nach vorn“. Ins gleiche Horn bläst Tanner selbst gegenüber der ZIB 2 am 19. Juni. Sie hätte im Ministerium eine Arbeitsgruppe eingesetzt und wolle sehen, wo „in Form eines Milizpaketes“ noch weitere Militärausrüstung angeschafft werden könne.
„Türkises PR-Spektakel“
„Ich würde sagen, es ist – und ich glaube, die Meinung teile ich mit einigen Kameraden – vor allem eine große PR-Inszenierung“, sagt ein Milizsoldat, der namentlich nicht genannt werden will, gegenüber der ZIB 2. Milizsoldat B.C. aus Salzburg sagt, dieser Aussage könne er „voll und ganz zustimmen“. Ein weiterer Milizsoldat schreibt auf Reddit: „Der Einsatz war ein einziges türkises PR-Spektakel.“
Der Einsatz der Miliz soll noch bis mindestens Ende Juli dauern. Auf die Frage nach den Gesamtkosten für den Einsatz der Miliz kann das Verteidigungsministerium „derzeit noch keine Rückmeldung geben“. Die Kosten seien „noch nicht absehbar“.