Was ist Longtermismus?
Was ist Longtermismus oder Longtermism?
Longtermismus ist ein aus dem Englischen kommender Begriff und würde etwas patschert übersetzt „Langfristismus“ bedeuten. Im Begriff steckt eine gewisse Irreführung. Denn wenn man bei den Inhalten dieser Ideologie nur vom „langfristigem“ Denken spricht, dann wäre das ein massive Untertreibung.
Grob gesagt geht es beim Longtermismus darum, das Leben der größtmöglichen Zahl an Menschen zu verbessern. Er konzentriert sich bei dieser Kosten-Nutzen-Rechnung aber nicht auf das Wohlergehen von heute lebende Menschen oder der nächsten Generationen, sondern will alle zukünftigen Menschen mitbedenken. „Ich denke, dass der Zeitpunkt, an dem sich eine Person wiederfindet, moralisch keinen Unterschied machen sollte“, sagt mit William MacAskill einer der heutigen Vordenker dieser Ideologie.
Diese ins extreme gesteigerte Abwägung unterscheidet die Ideologie deutlich von vielen anderen Vorstellungen von Nachhaltigkeit und langfristigem Denken. Der Longtermismus geht davon aus, dass in der Zukunft immer viel, viel mehr Menschen leben, als in der Vergangenheit.
Wie viele Menschen haben bisher gelebt?
Berechnungen gehen davon aus, dass in der bisherigen Geschichte der Menschheit etwa 117 Milliarden Menschen gelebt haben – etwa 8 Milliarden davon leben gerade jetzt.
Wie viele Menschen werden in der Zukunft leben?
Diese Zahl ist natürlich aufgrund der vielen Ungewissheiten unmöglich vorher zu sagen. Wenn es Menschen gelingt, das Universum weiter zu bevölkern, könnte die Menschheit so lange existieren, wie das Universum selbst. Explodiert morgen unerwartet die Sonne, ist Schluss. Hier auf der Erde ist das Leben jedenfalls zeitlich begrenzt. Unsere Sonne wird noch etwa 6 Milliarden Jahre brennen, aber schon lange davor die Lebensbedingungen auf der Welt zerstören, weil sie immer heißer wird. In 1,1 Milliarden Jahren besteht die Landmasse vermutlich nur noch aus Wüsten, irgendwann verdampfen dann auch die Meere. In den kommenden 800.000 Jahren würden auf einer Erde mit 11 Milliarden Menschen, die eine Lebenserwartung von 88 Jahren erreichen, ganze 100 Billionen Menschen leben.
Der Longtermismus hat auch absurde Antworten auf diese Frage. In manchen Gedankenspielen sind auch Menschen enthalten, deren Bewusstsein in eine Art Computernetzwerk hochgeladen wäre. Dann könnten in der Zukunft bis zu 10 Nonilliarden Menschen leben.
Was sind die Gefahren am Longtermismus?
Sich auf langfristige Probleme zu lösen und an die Zukunft zu denken, ist natürlich nicht falsch und kommt in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft oft zu kurz. Aber der Longtermismus ist in seiner Auslegung extrem.
Durch seine in Zahlen gegossene Moral geraten die Bedürfnisse lebender Menschen in den Hintergrund zugunsten jener Menschen, die vielleicht erst in 100, 1000 oder einer Million Jahre leben. Denn aus diesem Zahlenspiel leitet sich ein radikaler Gedanke ab: die einzigen Probleme, die wirklich wichtig sind, sind die, die die Menschheit auslöschen könnten. Die werden als „existenzielles Risiko“ für die Menschheit verstanden. Eine Gefahr, die heute Milliarden Menschen tötet und viel Leid verursacht, kann in dieser Gedankenwelt auf lange Sicht als beinahe unbedeutend gelten, wenn in Zukunft noch 100 Billionen Menschen leben könnten. Sie ist dann kein „existenzielles Risiko“ für die Menschheit.
In dieser Denkweise ist zum Beispiel globale Armut kein besonders wichtiges Problem, auch wenn sie sehr viele der lebenden Menschen und deren Nachfahren betrifft. Und auch die Klimakrise ist nur dann ein existenzielles Risiko, wenn sie die Menschen ganz auszulöschen droht. Ein Meteorit, der die Erde trifft und das Leben unmöglich macht, bevor wir auch auf anderen Planeten leben können, wäre aber sehr wohl ein existenzielles Risiko. Die Menschheit müsste alles tun, um das zu vermeiden. Das heißt: Sie müsste so schnell wie möglich andere Planeten besiedeln – etwa den Mars.
Longtermist:innen würden natürlich nur in den seltensten Fällen sagen, dass ihnen heutige Probleme komplett egal sind. Aber die Menschheit hat nur begrenzte Ressourcen. Wenn es nun darum geht, entweder das eine oder andere Problem anzugehen, kann das Leben der aktuellen Menschen dabei in den Hintergrund geraten. Wer hingegen die heute tatsächlich lebenden Menschen priorisiert oder longtermistische Vorstellungen für die Zukunft der Menschheit behindert, kann für Vertreter:innen des Longtermismus zum Feindbild werden. In ihrer eigenen moralischen Logik tut diese Person schließlich etwas Falsches oder gar Böses zum Leidwesen fast unendlich vieler Menschen.
Was sind „existenzielle Risiken“ im Longtermismus?
Ein großes Problem für Longtermismus ist, dass es uns in Wahrheit völlig unerwartet treffen und überraschen könnte, welches Problem langfristig wirklich bedrohlich für die Menschheit oder eine Mehrzahl an Menschen ist. Und falsche Annahmen darüber können langfristig katastrophale Auswirkungen haben. Das hält Longtermist:innen nicht davon ab, viele davon zu treffen.
Das heißt aber nicht, dass die Probleme, denen Longtermist:innen sich widmen wollen, völlig aus der Luft gegriffen sind. Die meisten davon sollten sicherlich Aufmerksamkeit erhalten. Beispiele dafür wären etwa eine Pandemie, die alle Menschen tötet oder unfruchtbar macht. Oder ein Meteor, der unseren einzigen Planeten unbewohnbar macht. Oder ein Atomkrieg, der unser Überleben gefährdet. Oder auch die größtmögliche Klimakatastrophe, die unseren Lebensraum unbewohnbar macht.
„Für das wichtigste existentielle Risiko halten viele Longtermist:innen momentan eine bösartige künstliche Intelligenz, die nicht mit menschlichen Werten übereinstimmt und uns daher auslöscht“, erklärte kürzlich Historiker:in Emilè Torres im Gespräch mit MOMENT.at. Torres beschäftigt sich kritisch mit Longtermismus als Ideologie.
Wer sind Anhänger:innen von Longtermismus?
Die Bedeutung von Ideen wie der Besiedelung des Mars oder der Verschmelzung von Mensch und Computer hat dich vielleicht kurz aufhorchen lassen und ist ein Hinweis. Elon Musk ist jemand, der zumindest von der Idee des Longtermismus als angetan gilt. Das gilt auch für andere Überreiche die sehr oft aus dem Silicon Valley- oder Kryptowährung-Umfeld stammen: etwa Peter Thiel (ein rechtsradikaler Venture Capitalist) oder Vitalik Buterin (der progressive Gründer der Ethereum-Blockchain).
Die geistigen Vordenker:innen der Ideologie sind diese prominenten Überreichen aber nicht. Die Ideologie wird auch von einigen Thinktanks propagiert und weitergetrieben, die sie finanzieren. Philosoph:innen beschäftigen sich seit langen mit Ansätzen dieses Denkens. Einige der prominentesten in der Gegenwart sind der Schotte William MacAskill, der Australier Toby Ord oder der Schwede Nick Bostrom.
Die Idee des Longtermismus ist auch eng verknüpft mit der des „Effektiven Altruismus“ – als dessen Vertreter gilt etwa Sam Bankman-Fried (ein mittlerweile wegen Betrugs in Haft befindlicher Krypto-Milliardär).
Was ist effektiver Altruismus?
Altruismus beschreibt den uneigennützigen Einsatz für andere. Effektiv ist er dann, wenn der Einsatz der Mittel dabei den größtmöglichen Nutzen erzielt. Auch hier ist also die Moral in Zahlen gegossen. Besonders unter reichen Menschen ist er sehr beliebt. Die Idee besagt, man solle sein Vermögen dafür einsetzen, die „existenziellen Risiken der Menschheit“ zu minimieren.
Das hat auch ein antidemokratisches Element. Denn selbst wenn die Absichten gut sind, entscheiden über Spenden nicht demokratische Wege und Einrichtungen, sondern vor allem eine kleinen Elite. Es liegt dann in ihrem Ermessen, welche Probleme der Menschheit als wichtig gelten – und damit auch, wer unter lösbaren Problemen leidet oder wer bei der Problemlösung zurückbleibt.